“Psychische Erkrankungen werden besser erkannt und weniger stigmatisiert”

Frau Dr. Hauth, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), im Interview. Die Zahl psychischer Erkrankungen nimmt jedes Jah

Frau Dr. Hauth, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), im Interview.

Die Zahl psychischer Erkrankungen nimmt jedes Jahr zu. Nicht zuletzt die ständige Erreichbarkeit, die enorme Arbeitsbelastung und der daraus resultierende Dauerstress beschleunigen diese Entwicklung. Die DGPPN veranstaltet vom 25. bis 28. November in Berlin mit dem DGPPN Kongress die größte Fachtagung im Bereich Psychologie und Psychiatrie in Europa. Über 650 Einzelveranstaltungen können die rund 9.000 Ärzte, Wissenschaftler und Therapeuten besuchen. esanum sprach im Vorfeld mit Dr. Iris Hauth, Präsidentin der DGPPN. Sie ist Ärztliche Direktorin am Zentrum für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Alexianer St. Joseph-Krankenhaus in Berlin-Weißensee.

esanum: Frau Dr. Hauth, der DGPPN Kongress 2015 findet unter dem Motto “Der Mensch im Mittelpunkt: Versorgung neu denken” statt. Was genau können die Teilnehmer auf der Veranstaltung erwarten?

Hauth: Der DGPPN Kongress hat sich in den vergangenen Jahren zu Europas größter Fachtagung auf dem Gebiet der psychischen Erkrankungen entwickelt. In diesem Jahr umfasst das wissenschaftliche Programm rund 650 Einzelveranstaltungen, die alle relevanten psychischen Störungen aufgreifen und sich intensiv mit den aktuellen Entwicklungen in Forschung, Diagnostik und Therapie beschäftigen. Das Kongressmotto zieht sich dabei wie ein roter Faden durch das Programm: Nationale und internationale Experten aus Wissenschaft, Praxis und Politik werden neue Versorgungskonzepte vorstellen. Im Fokus stehen Fragen, die ganz direkt die Patienten betreffen: Wie lassen sich die Empfehlungen der evidenzbasierten Leitlinien im Behandlungsalltag noch umfänglicher umsetzen? Wie können die neuesten Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung in die Praxis übersetzt werden? Wie stellen wir die Beziehungskontinuität in der Behandlung und die Gerechtigkeit bei der Verteilung der Ressourcen sicher? Zudem richtet sich der DGPPN Kongress 2015 zum ersten Mal mit einem speziellen Fortbildungsangebot auch an Hausärzte.

esanum: Inwieweit kann das deutsche Gesundheitssystem eine “wohnortnahe” und “lebensweltorientierte” Versorgung für psychisch erkrankte Menschen sicherstellen?

Hauth: In der ambulanten Versorgung durch Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, ärztliche und psychologische Psychotherapeuten bestehen aktuell erhebliche Unterschiede in der Versorgungsdichte – mit einer Unterversorgung im ländlichen Bereich und in den neuen Bundesländern. Die zukünftige Bedarfsplanung muss diese Fehlversorgung berücksichtigen und ausgleichen. Darüber hinaus muss es möglich sein, auch ambulant komplexe Behandlungen schwer und chronisch kranker Menschen durchführen zu können und die notwendige Finanzierung zu sichern.

Bei den Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie inklusive der Tageskliniken und Institutsambulanzen hat sich in den letzten Jahrzehnten die so genannte Pflichtversorgung bewährt, die Menschen in einem klar definierten Einzugsgebiet wohnortnahe Versorgung garantiert. Dies gilt es auch im neuen Entgeltsystem für die Kliniken zu sichern. Darüber hinaus benötigen wir dringend verbindliche gestufte strukturierte Versorgungspfade, in denen die verschiedenen Berufsgruppen und Sektoren Hand in Hand arbeiten. Wir hoffen sehr, dass der Innovationsfond entsprechende Modelle fördert. Zu einer lebensweltlich orientierten Versorgung gehört weiterhin, dass die Betroffenen in der beruflichen und sozialen Teilhabe unterstützt werden.

esanum: Psychische Erkrankungen sind die zweithäufigste Ursache für Krankschreibungen in Deutschland: Jeder 20. Arbeitnehmer fiel 2014 wegen einer psychischen Erkrankung aus. Was sind die Gründe für diesen Anstieg?

Hauth: Nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2012 zeigt sich, dass psychische Erkrankungen seit Ende der 1990er-Jahre in ihrer Prävalenz nicht zugenommen haben. Dass sie heute trotzdem mehr Fehltage verursachen, ist auf eine Reihe von Gründen zurückzuführen: Die Erkrankungen werden besser erkannt und diagnostiziert, die Sensibilität ist auch außerhalb des Faches Psychiatrie und Psychotherapie gewachsen. Zudem werden Krankheiten wie Depressionen heute nicht mehr so stark stigmatisiert und weniger oft als beschämender Schwächezustand wahrgenommen. Daher sind die Betroffenen eher bereit, sich professionelle Hilfe zu suchen und sich an einen Hausarzt, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie oder Therapeuten zu wenden.

esanum: Einige Kritiker behaupten, nicht die Zahl der psychischen Erkrankungen habe zugenommen, sondern Ärzte und Psychiater würden viel schneller eine psychische Erkrankung diagnostizieren. Was entgegnen Sie diesem Vorwurf?

Hauth: Tatsächlich hat sich die Prävalenz psychischer Erkrankungen in den vergangenen zwanzig Jahren nicht signifikant erhöht. Was zugenommen hat, ist die Bereitschaft, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dies ist im Sinne einer frühzeitigen Diagnostik und therapeutischen Hilfe für die Betroffenen eine positive Entwicklung. Kritisch sehen wir als Fachgesellschaft jedoch die definitorische Ausweitung psychischer Störungen. Krankheitsdiagnosen müssen sich auf medizinisch signifikantes Leiden beschränken. Natürliche Anpassungs- und Alterungsprozesse oder alltägliche Befindlichkeitsstörungen dürfen nicht automatisch als Krankheit gewertet werden.

esanum: Psychopharmaka bilden die Grundlage zahlreicher Therapien. Ihr Einsatz bleibt aber umstritten. Bei welchen Erkrankungen sind Psychopharmaka sinnvoll? Werden Psychopharmaka zu schnell verschrieben?

Hauth: Die wissenschaftlichen Leitlinien empfehlen eine Behandlung mit Medikamenten insbesondere bei schweren psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Schizophrenie oder bipolaren Störungen. Bestimmte Krankheitsbilder werden durch Psychopharmaka erst behandelbar, indem sie eine Basis für eine psychotherapeutische Behandlung und weitere Behandlungen wie Soziotherapie schaffen. Entscheidend ist, dass nicht einseitig auf eine medikamentöse Therapie gesetzt wird, sondern dass diese Teil eines Gesamt-Behandlungsplans ist, der auch psychotherapeutische und weitere therapeutische Schritte beinhaltet. Eine zentrale Rolle kommt dabei der Arzt-Patienten-Kommunikation zu. Wir Ärzte müssen unsere Patienten sorgfältig und transparent über den Nutzen eines Wirkstoffs, aber auch über dessen Nebenwirkungen und Wechselwirkungen aufklären.

esanum: Welche psychischen Erkrankungen werden in den kommenden Jahren zunehmen? Wie wird sich die dauerhafte Online-Nutzung auswirken?

Hauth: In den nächsten Jahrzehnten werden wir aufgrund der steigenden Lebenserwartung und des demographischen Wandels mit immer mehr demenziell erkrankten Menschen rechnen müssen. Auch können wir davon ausgehen, dass chronischer Stress bei der Bewältigung des Alltags- und Arbeitslebens zunehmen wird. Dieser ist Risikofaktor für verschiedene psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen. Hier stehen wir nicht nur in der frühzeitigen Diagnostik und leitliniengerechten Therapie, sondern besonders auch in der Prävention vor großen Herausforderungen.

Die Beurteilung der Internetnutzung hat zwei Seiten: Menschen, die mit Risikofaktoren behaftet sind, eine Abhängigkeitserkrankung zu entwickeln, sind durch dauerhafte Internetnutzung gefährdet, eine Internetsucht zu entwickeln. Auf der anderen Seite können über das Internet Aufklärung und Informationen über Prävention und Therapiemöglichkeiten bis hin zur Internet-Therapie vermittelt werden.

Interview: Volker Thoms

Foto: DGPPN