Wenn dieses Telefon klingelt, braucht meist ein geschundenes Kind Hilfe - und ein Mediziner den sofortigen Rat von Kollegen. Seit dem Sommer stehen dafür rund um die Uhr speziell geschulte Ärzte bereit.
"Das Mädchen ist 14", sagt der Arzt am anderen Ende der Leitung. "Hämatome an Armen und Oberschenkeln. Es war wohl der Onkel. Ich sollte die Jugendhilfe einschalten - oder gleich die Polizei?" Der Mediziner hat Dienst in einer Notfallambulanz. Das Wartezimmer ist voll. Die Zeit drängt, und mit Kindesmissbrauch hat dieser Doktor bisher kaum Erfahrung. "Muss ich erst noch die Eltern fragen? Und: Was ist jetzt mit meiner Schweigepflicht?"
Der Fall ist fiktiv, aber solche und ähnliche Anrufe gehören für die Ärztinnen und Ärzte am Telefon der Kinderschutzhotline ganz real zum Alltag. Praxiserfahren und eigens für diese Aufgabe geschult, wissen sie, was viele ihre Kollegen in Kliniken, Notaufnahmen und Hausarztpraxen oder auch in der Psychotherapie im Zweifelsfall nicht sofort parat haben: Wie sollen, dürfen oder müssen Ärzte konkret reagieren, wenn sie bei Kindern Hinweise auf Misshandlung oder Missbrauch bemerken?
"Ein häufiges Problem ist der Umgang mit der Schweigepflicht", berichtet Professor Jörg M. Fegert. "Viele sind da unsicher. Geregelt ist das ja auch nicht im Arztrecht, sondern im Jugendhilferecht - da gibt es die Befugnis für Berufsgeheimnisträger, beim Verdacht auf Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung Kontakt mit dem Jugendamt aufzunehmen, ohne dass dies ein Bruch der Schweigepflicht wäre."
Professor Fegert ist der Ärztliche Direktor der Ulmer Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Unter seiner Leitung wurde die bundesweite Medizinische Kinderschutzhotline entwickelt, die im Juli 2017 - auch dank Fördergeldern des Bundesfamilienministeriums - den Betrieb aufnahm. Elf Ärztinnen und Ärzte aus den Fachgebieten Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Kinderheilkunde und Rechtsmedizin bedienen die Hotline im Berliner DRK Klinikum Westend und im Uniklinikum Ulm, das zugleich die Projektleitung innehat.
Mehr als 100 Mediziner erbaten allein in den ersten sechs Wochen den Rat ihrer Kollegen, berichtet der Professor. Pro Jahr rechne man künftig mit bis zu 1.000 Fällen. "Das Angebot wird gut angenommen", sagt Susanne Gütte, Sprecherin des Bundesfamilienministeriums. "Dabei zeigt sich, dass hoher Bedarf an spezifischer Beratung besteht." Bereits in ihrer noch frühen Projektphase helfe die Hotline, Lücken in der Verständigung zwischen Medizin und Jugendhilfe zu schließen.
Wie dringend der Schutz für Kinder verbessert wurden muss, machen Fälle wie der Skandal um einen Schwimmlehrer in Baden-Baden deutlich, dem vorgeworfen wird, selbst fünfjährige Mädchen sexuell missbraucht zu haben - was wohl lange unentdeckt blieb. Spätestens wenn sich Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte mit dem Tod misshandelter oder vernachlässigter Kinder beschäftigen müssen, wird gefragt: Gab es keine Warnzeichen, hätte man nicht früher reagieren können?
2016 führten die Jugendämter nach im Oktober veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamtes rund 136.900 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls durch - ein Anstieg um 5,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr. 45.800 Fälle wurden als akute oder latente Kindeswohlgefährdung eingestuft. Um sexuelle Gewalt ging es in 4,4 Prozent dieser Fälle, bei fast einem Drittel wurden Anzeichen für psychische, bei einem Viertel für körperliche Misshandlung festgestellt. Am häufigsten ging es um Vernachlässigung (61 Prozent).
Dass es womöglich eine hohe Dunkelziffer von nicht aktenkundigen Fällen gibt, führen Experten unter anderem auf eine mangelhafte Kommunikation zwischen Ärzten und Ämtern zurück. Im Medizinstudium und der Heilberufsausbildung werde zu wenig auf Kindeswohlgefährdung und den medizinisch-rechtlichen Umgang damit eingegangen, kritisiert Fegert. "Oft sind Ärztinnen und Ärzte die ersten, zu denen ein akut misshandeltes oder vernachlässigtes Kind gebracht wird", sagte Familienministerin Katarina Barley (SPD) bei der Inbetriebnahme der Hotline. "Sie sind daher in besonderer Weise gefordert, im Sinne des Kinderschutzes zu handeln."
Rat bietet die neue Hotline auch Zahnärzten. Bei Schuluntersuchungen, berichtet Fegert, würden sie gelegentlich auf dramatisch verwahrloste Kindergebisse stoßen - ein Anzeichen für Vernachlässigung. Auch Rettungskräfte melden sich. Wenn sie mitten in der Nacht bei einem Notfalleinsatz in eine Wohnung kommen, wo sie verwahrloste Kinder bemerken, brauchen sie schon mal konkreten und sofortigen Rat, was sie tun sollten und dürfen.
Zum Thema "Häusliche Gewalt gegen Kinder" bietet esanum eine aktuelle CME-Fortbildung für Ärzte an.