Jeder in Impfungen investierte Euro bewirkt einen Nutzen aufgrund vermiedener Krankheiten und Todesfälle, als Folge höherer Lebensqualität, vermiedener Behandlungskosten und sozioökonomischer Effekte wie höherer Arbeitsproduktivität von insgesamt 19 Euro – bei Erwachsenen. Noch kosteneffizienter sind Impfungen bei Kindern: Hier liegt das Verhältnis von Kosten und Gesamtertrag bei 1 zu 50. Diese Zahlen hat das britische Office of Health-Economics (OHE), einer Forschungseinrichtung des britischen Pharmaverbandes, auf Basis internationaler Daten errechnet und beim "Impf-Gipfel" des "Tagesspiegel" am Donnerstag in Berlin vorgestellt.
Impfungen haben danach, so OHE-Gesundheitsökonom Simon Brassel, mehrere Effekte, zum Beispiel:
Für die meisten gängigen Schutzimpfungen – Influenza, Pneumokokken, RSV und Herpes Zoster – existiere eine gute Evidenz hinsichtlich verschiedener Effekte. Für die Influenza-Impfung liegt die Effektstärke zwischen 70 und 100 Prozent in Bezug auf Kosten des Gesundheitswesens, auf die Mortalität der geimpften Personen und ihre Lebensqualität. Die Effektstärke dieser Impfung liegt in einem mittleren Bereich für die Entwicklung einer Herdenimmunität und die Produktivität der Geimpften und im Fall von Pflegebedürftigkeit auch der Pflegepersonen.
Auch die makroökonomischen Effekte können beachtlich sein und den Wohlstand der Gesellschaften signifikant erhöhen. So konnten aufgrund der der während der Corona-Pandemie sehr schnell bis Ende 2020 entwickelten und seitdem zur Verfügung stehenden Impfstoffe Verluste beim Bruttoinlandsprodukt von 2,6 Billionen Dollar in 146 Ländern vermieden werden – Verluste, die sonst durch längere oder intensivere Lockdowns angefallen wären. Generell betrugen die Kosten und Einkommensausfälle durch diese Lockdowns ein Vielfaches der zusätzlichen Gesundheitsausgaben und speziell der zusätzlichen Kosten durch Covid-19-Impfungen.
Trotz dieser mit guter Evidenz belegten Erfolgsbilanz hat die Corona-Pandemie nicht die Impfbereitschaft erhöht – eher ist die Stimmungslage politisiert und nicht versachlicht worden. Zwar ist der Anteil der Impfgegner klein, und die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung steht die Bevölkerung Impfungen generell positiv gegenüber – was sich aber, mit Ausnahme bei Kindern, nicht in den tatsächlich erreichten Impfquoten niederschlägt.
Das macht der Wirtschaft – neben dem zunehmenden Fachkräftemangel – inzwischen massive Sorgen, wie Han Steutel, Präsident des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen und Vorstandsmitglied des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, sagte. Das schlägt sich inzwischen in konkreten Wohlstandsverlusten nieder: um 0,3 Prozentpunkte oder 26 Milliarden Euro könnte das Wirtschaftswachstum (dieses Jahr wohl leicht negativ) ausfallen, wenn Deutschland einen AU-Stand nur im Durchschnitt der letzten Jahre hätte. Nach jüngsten Daten der AOK war dieses Jahr schon Ende des Sommers der gesamt Rekord-AU-Stand des vergangenen Jahres erreicht. Und die Welle an impfpräventablen Atemwegsinfektionen – eine der bedeutenden AU-Ursachen – steht noch im Herbst und Winter bevor.
Angesichts dessen äußert sich Steutel ziemlich ungehalten sowohl über das Verhalten der Politik, aber auch des Managements in den Betrieben. Eine Stärkung der Prävention durch die Politik erwartet er erst in der nächsten Legislaturperiode. Dringend notwendig sei ein elektronischer Impfpass, integriert in die ePA, was mit einem Einladungssystem verbunden werden müsse. In der Pflicht seien aber auch Unternehmen und deren Personalleitungen durch eine Intensivierung des betrieblichen Gesundheitsmanagements.
Von allen Seiten, auch vom ehemaligen Präsidenten des Pädiater-Verbandes Dr. Thomas Fischbach, wird die Erlaubnis für Apotheker, gängige Impfungen vorzunehmen, begrüßt. Das soll nun, so Andrea Perea, kurzfristig im Rahmen der Entscheidungen des Bundestages über das BIPAM-Gesetz beschlossen werden – aus der stockenden Apothekenreform wurde diese Erlaubnis nun in ein anderes Gesetz übernommen.
Auch im Bundesgesundheitsministerium hält man die erreichten Impfquoten – mit Ausnahme der Kinder, die aufgrund der U-Untersuchungen systematisch von Pädiatern erreicht und geimpft werden – für unzureichend. Gravierende gibt es nach wie vor bei Jugendlichen (HPV) sowie bei Älteren und Pflegebedürftigen. Generell müssten die Impfempfehlungen und -pläne auf die Bedürfnisse einer älteren Gesellschaft angepasst werden.
Dringend notwendig sei aber auch, den Zugang zu Impfungen zu erleichtern – eine wichtige Rolle insbesondere für vulnerable, schwer erreichbare gesellschaftliche Zielgruppen spiele dabei der Öffentliche Gesundheitsdienst. Welche Verbesserungen der Pakt für den ÖGD konkret gebracht hat, bleibt offen.
Nach wie vor schwierig – im Vergleich zu klar strukturierten staatlichen Gesundheitssystemen in anderen Ländern ist das komplexe Vertragsgeflecht zwischen 95 Kassen und 17 KVen in Deutschland. Schwerfällig und langsam geht auch der Aufbau von neuen elektronischen Funktionen bei der ePA vonstatten, die ab Anfang nächsten Jahres eingeführt wird. Ein integrierter Impfpass mit automatischem Erinnerungssystem ist dabei zunächst nicht vorgesehen.
Fazit: in Bezug auf Impfprävention bleibt die deutsche Gesundheitsbürokratie träge. Bezahlt wird inzwischen mit beträchtlichen Wohlfahrtseinbußen.