Interview mit Alicia Baier von Medical Students for Choice über die fehlende Thematisierung von Abtreibungen im Curriculum
Medical Students for Choice (MSFC) sind eine studentische Arbeitsgruppe, die sich 2015 an der Berliner Charité gegründet hat. Ihr Ziel: Das Thema Schwangerschaftsabbruch zu enttabuisieren und rechtliche, ethische sowie medizinische Fragen zu Abtreibungen stärker im Curriculum des Medizinstudiums zu verankern.
Alicia Baier ist eine der Initiatorinnen von MSFC in Berlin. Das Medizinstudium hat sie vor kurzem abgeschlossen. Im Interview spricht die 27-Jährige über Gründe, warum Schwangerschaftsabbrüche nach wie vor tabuisiert werden, weshalb immer weniger Ärzte und Kliniken Abbrüche durchführen und wieso die Ärzteschaft dem Thema Abtreibungen weiterhin kritisch gegenübersteht. Etwa 101.000 Schwangerschaftsabbrüche werden jährlich in Deutschland durchgeführt.
esanum: Frau Baier, Medical Students for Choice fordert, dass medizinische Aspekte und die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs fester Bestandteil der medizinischen Ausbildung werden. Was lernen Medizinstudenten aktuell über Schwangerschaftsabbrüche?
Baier: Ich kann nicht für alle Universitäten sprechen, aber an vielen wird das Thema nur marginal angeschnitten. Häufig dann auch nur im Fach Medizinethik und nicht im Fach Gynäkologie. An der Charité zum Beispiel kommt das Thema Schwangerschaftsabbruch bislang lediglich in einem Seminar über Pränataldiagnostik für etwa zehn Minuten zur Sprache – oder es fällt ganz unter den Tisch.
Damit werden dieses Thema und dieser häufige Eingriff natürlich nur unzureichend abgebildet. Die beiden etablierten medizinischen Methoden der Abtreibung werden gar nicht behandelt. Wir konnten erreichen, dass die Charité das Curriculum zum Sommersemester 2019 ändert. Es wird ein zusätzliches anderthalbstündiges Seminar sowie eine vorbereitende Online-Vorlesung geben, die den Schwangerschaftsabbruch immerhin aus ethischer, rechtlicher und gesellschaftspolitischer Sicht behandeln werden.
esanum: Wo genau sehen Sie aktuell ein Defizit? Welche Inhalte zu Abtreibungen sollten aus Ihrer Sicht behandelt werden?
Baier: Wir wollen, dass das Thema Schwangerschaftsabbruch enttabuisiert wird. Immerhin sind Schwangerschaftsabbrüche ein wichtiger und notwendiger Bestandteil der Gynäkologie, was in der medizinischen Ausbildung aber nicht entsprechend vermittelt wird. Wir wollen die Berührungsängste mit diesem Thema abbauen. Ganz konkret fordern wir, dass ethische, rechtliche, politische und medizinische Aspekte beleuchtet werden. Es geht uns noch nicht einmal um das praktische Üben während des Studiums. Aber jeder Medizinstudierende sollte über den Ablauf des medikamentösen und chirurgischen Abbruches, über die Wirkweise und mögliche Nebenwirkungen für die Frauen Bescheid wissen. Immerhin betrifft dieser Eingriff sehr viele Frauen im Laufe ihres Lebens. Auch sollten die Studierenden lernen, Frauen zum Thema Abtreibung zu beraten.
esanum: Die von Ihnen angeboten Papaya-Workshops erreichten einiges an medialer Aufmerksamkeit. Was lernen die Teilnehmer dort? Wie stellen Sie die medizinische Qualität sicher?
Baier: Vorab: Die Papaya-Workshops sind ein etabliertes Konzept aus den USA. Die Papaya wird dort von verschiedenen medizinischen Fachgesellschaften als Gebärmuttermodell anerkannt. Sie hat ungefähr die Form einer Gebärmutter, die Kerne können abgesaugt werden und wenn man unvorsichtig ist, kann man sie perforieren.
Die Workshops dienen dazu, die verschiedenen Facetten eines Schwangerschaftsabbruchs zu beleuchten. Zu Beginn gibt es einen großen theoretischen Block: Wir informieren über die Anatomie der weiblichen Geschlechtsorgane, damit alle auf demselben Stand sind. Dann sprechen wir über die strafrechtlichen und ethischen Aspekte, außerdem über politische und historische Entwicklungen.
Danach übernehmen erfahrene Gynäkologinnen, die ausführlich über den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch informieren – das ist uns wichtig, denn in Deutschland wird diese Methode leider vernachlässigt. Zum Schluss kommt dann der praktische Teil des Workshops, in dem die Gynäkologinnen am Modell der Papaya zeigen, wie der chirurgische Schwangerschaftsabbruch durchgeführt wird. Was dabei klar ist: Die Teilnehmenden sind am Ende nicht befähigt, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. Das muss man in einer Klinik lernen.
Wir wollen also insgesamt einen Raum für das Thema schaffen, in dem Studierende sich informieren und mit Expert*innen in Kontakt treten können. Unsere Botschaft ist, dass ein sicherer Zugang zum Schwangerschaftsabbruch für die Gesundheit von Frauen essenziell ist – und dass wir als zukünftige Ärzt*innen eine Verantwortung haben, diesen Zugang zu gewährleisten.
esanum: Wäre es nicht ausreichend, wenn Schwangerschaftsabbrüche in der Facharztausbildung zum Gynäkologen thematisiert würden?
Baier: Man lernt Schwangerschaftsabbrüche richtig durchzuführen eben nicht zwingend in der Facharztausbildung. Man lernt es in der Regel von erfahrenen Kolleg*innen in der Klinik, aber auch nur dann, wenn eine Klinik überhaupt Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Viele bieten das ja gar nicht an, beispielsweise weil sie keinen ‚schlechten Ruf‘ für ihr Haus möchten. Wie soll der Nachwuchs es dann lernen?
Ich halte es übrigens für bedauerlich, dass fast nur Gynäkolog*innen Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Kristina Hänel, die wegen des Paragraphs 219a viel in den Medien ist, ist zum Beispiel Ärztin für Allgemeinmedizin. Wenn es strukturierte Fortbildungsmöglichkeiten in Deutschland gäbe, könnte man so dem aktuellen Versorgungsmangel entgegenwirken. In Holland ist das längst gängige Praxis.
esanum: Es überrascht, dass ein derartig häufiger Eingriff immer noch ein dermaßen großes Tabu darstellt. Warum ist das so?
Baier: Die Haltung zum Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland historisch gewachsen. Es war lange Zeit gesellschaftspolitisch erwünscht, dass es ein Tabu bleibt. Paragraph 218 StBG bestraft Abtreibungen ja grundsätzlich mit Freiheitsstrafe. Sie sind nur unter bestimmten Voraussetzungen straffrei. Der Paragraph entstand zur Zeit der deutschen Reichsgründung vor ungefähr 150 Jahren, als nach verlustreichen Kriegen ein Bevölkerungswachstum erwünscht war. Es gibt viele solcher Beispiele, die zeigen, dass es bei der sogenannten ‚Schutzpflicht des Staates‘ eigentlich mehr um bevölkerungspolitische Interessen und um Macht geht, als um den Schutz des ungeborenen Lebens.
Momentan haben wir in Deutschland die Situation, dass immer weniger Ärzt*innen bereit sind, Abbrüche durchzuführen – sie können das tun, weil es als große Ausnahme in der Medizin bei Abtreibungen die Möglichkeit einer ‚Verweigerung aus Gewissensgründen‘ gibt. Allerdings muss man sich dazu nicht rechtfertigen. Es ist also gar nicht klar, ob der Grund für den Nachwuchsmangel wirklich das ärztliche Ethos ist oder nicht auch die unsichere rechtliche Lage und die schlechte Ausbildungssituation.
esanum: Wie viele Ärzte führen denn Schwangerschaftsabbrüche durch?
Baier: Wir haben in Deutschland auf jeden Fall ein echtes Versorgungsproblem: Ganze Landstriche sind ohne Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Die Zahl der Praxen und Kliniken, die Abbrüche durchführen, ist seit 2003 um etwa 40 Prozent gesunken, wie das Statistische Bundesamt neulich herausgegeben hat. Das ist für ungewollt Schwangere ein echtes Problem. Wir sind der Meinung: Frauen sind davon abhängig, dass es Ärzt*innen gibt, die ihnen in dieser Situation helfen. Und: Niemand macht einen Schwangerschaftsabbruch leichtfertig.
esanum: Wie positioniert sich die Ärzteschaft? Gab es von dieser keinen Druck, Schwangerschaftsabbrüche stärker ins Curriculum zu integrieren?
Baier: Das Thema wird in der Ärzteschaft ähnlich kontrovers diskutiert wie in der Gesellschaft. Druck? Nein. Der Ärztetag hat sich 2018 zum Beispiel gegen eine Abschaffung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche nach 219a ausgesprochen. Außerdem bieten wie gesagt viele Kliniken Abtreibungen gar nicht an. Auch daran sieht man, dass das Thema weiterhin für viele Ärzt*innen und Kliniken ein Tabu darstellt.
esanum: Wie beurteilen Sie die vom Bundestag beschlossene Änderung des Paragraphen 219a?
Baier: Die Änderungen sind nicht zufriedenstellend. Die richtige und sachliche Information zu Schwangerschaftsabbrüchen durch erfahrene Ärzt*innen bleibt weiterhin Teil des Strafgesetzbuchs – damit steht Deutschland in Europa fast allein da. Das Strafgesetz ist die letzte Waffe des Staates und wird sonst bei Verbrechen wie Mord und Vergewaltigung angewendet. Schwangerschaftsabbrüche und die Information darüber sind hier völlig deplatziert.
Die Kriminalisierung der ärztlichen Information ist umso schlimmer, da Falschinformationen und Holocaustvergleiche auf den Webseiten der Abtreibungsgegner*innen nicht verboten werden, was zu einem Ungleichgewicht der Informationsqualität im Internet führt.
esanum unterstützt die Enttabuisierung und Sichtbarmachung von Schwangerschaftsabbrüchen als einen notwendigen Teil der gynäkologischen Praxis sowie das Recht auf Aufklärung und Information. Die Änderung des Paragrafen 219a ermöglicht es Ärztinnen und Ärzten seit Kurzem, auch im Internet darüber zu informieren, dass Schwangerschaftsabbrüche zu ihren angebotenen Leistungen zählen. Wenn Sie bei esanum registriert sind, können Sie diese Angabe in Ihrem Profil ergänzen.