Tamara Ates hatte gleich zu Beginn ihrer zweiten Schwangerschaft ein mulmiges Gefühl. “Mein Bauchgefühl sagte mir, dass irgendetwas nicht stimmt”, sagt die 30-jährige Erzieherin. “Ich hatte plötzlich unheimlich viel Durst, musste ständig auf Toilette, obwohl ich gar nicht musste und ich habe mich schlapp gefühlt.” In der 24. Schwangerschaftswoche Woche machte Ates einen vorgeschriebenen Blutzuckerest. Der Wert war leicht erhöht. Der Folgetest war eindeutig: Ates hatte Schwangerschaftsdiabetes.
Sie stellte mit Hilfe eines Diabetologen die Ernährung um. “Ich bin eine totale Naschkatze”, gibt die Essenerin zu. Doch mit ihrem Gewicht lag sie immer im Normalbereich. Brötchen, Weizenprodukte und Süßes waren von nun an tabu. Fünf Mal am Tag maß Ates ihren Blutzucker. Die ersten zwei Wochen waren hart. “Aber danach habe ich mich super gefühlt.” Doch der neue Ernährungsstil allein reichte nicht. Sie bekam auch eine Insulintherapie.
Dennoch gaben die Werte ihres Babys keinen Anlass zur Entwarnung. Der Bauch des kleinen Leif wurde immer größer – ein typisches Zeichen für Schwangerschaftsdiabetes. Leif kam schließlich mit 58 Zentimetern und einem Gewicht von 4080 Gramm auf natürlichem Weg zur Welt – ohne Komplikationen. Zwar war der Bauch einen Zentimeter zu groß, doch seine Zuckerwerte waren normal. Leif war auch nicht, wie befürchtet, ein zu schweres Baby, lag aber an der oberen Grenze.
Die sogenannte Gestationsdiabetes gehört zu den häufigsten Komplikationen während einer Schwangerschaft. Tendenz steigend: Waren es 2002 noch 1,47 Prozent, stieg der Anteil 2014 auf 4,4 Prozent und 2015 auf 4,95 Prozent, wie der Internist und Diabetologe Helmut Kleinwechter von der Deutschen Diabetes Gesellschaft berichtet. Das waren 2015 fast 35 400 Fälle.
“Seit 15 Jahren sehen wir eine kontinuierliche Zunahme an Gestationsdiabetes”, sagt Kleinwechter. “Man muss davon ausgehen, dass die Zahlen jetzt auch steigen, weil gezielt und verbindlich danach gesucht werden muss.” Seit 2012 ist der Diabetestest bei Schwangeren in der 24. bis 28. Woche laut Mutterschutzrichtlinien Pflicht.
Kleinwechter zufolge hat dieser Screening-Test aber nur eine eingeschränkte Aussagekraft. “Man entdeckt dabei nicht alle Kranken.” Erst der Folgetest erlaube eine genauere Diagnose. Realistisch wäre eine Rate von Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes von sieben bis acht Prozent, sagt er mit Bezug auf Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO.
Die Gründe für die steigende Zahl sind für die Experten klar: Alter und Gewicht der Mütter nehmen zu. “Frauen, die bei der Entbindung 40 bis 45 Jahre alt sind, haben ein erhöhtes Risiko”, sagt Professor Karsten Müssig, Leiter des Klinischen Studienzentrums am Deutschen Diabetes-Zentrum in Düsseldorf. Jede zweite Frau in Deutschland sei übergewichtig oder sogar adipös.
Zu Diabetes komme es auch, weil die Schwangerschaftshormone dem Hormon Insulin entgegenwirkten, sagt Christian Albring, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte. Durch die gestörte Insulinwirkung erhöht sich der Blutzucker. Auch beim ungeborenen Kind kommt zuviel Zucker-Energie an, so dass es mehr Nährstoffe bekommt, als es eigentlich braucht – und zu dick wird.
Sogenannte Sumo-Kinder wie das Sechs-Kilo-Baby von 2013 in Leipzig sind angesichts der strengeren Diabetes-Kontrollen und -Therapien inzwischen sehr selten. Heute gilt aber ein neugeborenes Mädchen mit einem Gewicht von mehr als 4000 Gramm bereits als zu schwer, und ein Junge ab etwa 4170 Gramm. Allerdings muss das nicht in jedem Fall krankhaft sein. Es kommt auch darauf an, wie groß die Eltern sind.
Für Mütter birgt ein unerkannter Diabetes laut Müssig die Gefahr von schwangerschaftsbedingtem Bluthochdruck oder Harnwegsinfekten, die Frühgeburten begünstigen können. Oft wird auch wegen der Größe des Babys ein Kaiserschnitt empfohlen. Außerdem steige das Risiko, dass die Mutter bei einer erneuten Schwangerschaft wieder Diabetes habe und langfristig einen Typ 2-Diabetes entwickele.
Auch für das Baby ist die mütterliche Zuckerbombe eine Gefahr, wenn Diabetes nicht behandelt wird: Es kann zu stark an Gewicht zunehmen, zugleich aber “unreif” sein und Fehlbildungen bekommen. Häufig leiden die Babys unter einer schwachen Lunge und Atemnot oder haben einen Herzfehler. Und: “Langfristig haben diese Kinder dann auch ein Risiko für Übergewicht und eine Typ 2-Diabetes”, sagt Müssig.
Zu 80 Prozent wird Schwangerschaftsdiabetes mit einer Lebensstil- und Ernährungsänderung behandelt. Bei etwa 20 Prozent der Patientinnen wird Insulin eingesetzt.
Anders als bei Tamara Ates spüren die meisten werdenden Mütter keine Symptome eines beginnenden Diabetes. “Es gibt keine Warnzeichen”, sagt Albring. Deshalb sei der Diabetestest so wichtig. Und auch schlanke Frauen können plötzlich Diabetes in der Schwangerschaft haben, vor allem wenn es nahe Verwandte mit Typ 2-Diabetes gibt.
“Was unterschätzt wird, ist die Nachsorge der Frauen”, sagt Kleinwechter. Weniger als die Hälfte der Betroffenen kämen sechs bis zwölf Wochen nach der Entbindung zum Zuckertoleranztest. Der sei aber wichtig, denn etwa 50 Prozent der Frauen entwickelten nach zehn Jahren einen Diabetes. Bei Schwangeren, die mit Insulin behandelt wurden, sind die Prognosen noch schlechter. Auch Ates sagt: “Ich müsste mich jetzt eigentlich wieder auf Zucker testen lassen, aber es kam immer wieder etwas dazwischen.”
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