Nach einem starken Rückgang der Zahl vollendeter Selbsttötungen zwischen 1980 und 2006 verharrt die Zahl der Suizide in Deutschland (Ost und West) bei gut 10.000. Mindestens zehnmal so hoch die Zahl versuchter Selbsttötungen. Für Familien und Freunde sei dies eine „Tragödie“, so Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am Donnerstag bei der Vorstellung der Pläne für eine Umsetzungsstrategie zur Suizidprävention.
Das Risiko, durch einen Suizid zu sterben, ist fast viermal zu hoch wie Todesopfer eines Verkehrsunfalls zu werden und 50mal höher als an einem Gewaltverbrechen zu sterben. Drei Viertel der vollzogenen Suizide betreffen Männer, insbesondere Betagte und Hochbetagte. Aber auch in jüngeren Jahrgängen bestehe ein beträchtliches Suizid-Risiko, so die Suizidforscherin Dr. Uta Lewitzka von der TU Dresden und von der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, die an der Erarbeitung der Suizidprävention beteiligt war. Als Folge dessen nehme die Zahl der verlorenen Lebensjahre zu und erreicht inzwischen 350.000.
Die mangelnden Erfolge in Deutschland, seit fast 20 Jahren keine Senkung der Suizidrate zu erreichen, führt die Psychiaterin zurück auf fehlende Datengrundlagen für evidenzbasierte Präventionsmaßnahmen, unzureichende niedrigschwellige Angebote, die meist nur zeitlich begrenzt in Modellprojekten organisiert und finanziert werden, und ein System von Notrufen, die auf ehrenamtlichen Strukturen betrieben werden. Notwendig sei eine Strategie mit klaren Verantwortlichkeiten und gesetzlicher Verankerung. Dabei sollte Deutschland das von der WHO ausgegebene Ziel einer 30prozentigen Senkung der Suizidrate anstreben.
Drei Viertel aller Suizide werden von Männern begangen, insbesondere von betagten und hochbetagten Männern; im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist die Suizidrate der über 90-jährigen Männer um fast das Achtfache erhöht. Unter den Suizidopfern wiederum befinden sich zu 50 bis 90 Prozent Menschen mit psychischen Erkrankungen, am häufigsten Depressionen, psychotische oder Suchterkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen. Ein bedeutender Risikofaktor ist ein bereits stattgefundener Suizidversuch.
Daraus folgen zielgruppenspezifische Awareness-, Aufklärungs- und Entstigmatisierungskampagnen. Dies wird als Aufgabe von Hausärzten, Krankenhäusern, geriatrischen Einrichtungen, Pflegeheimen sowie Seniorentreffs und palliativmedizinischen Angebote angesehen. Auch über Urologen könnten viele alte Männer erreicht werden. Mit den psychiatrischen und psychotherapeutischen Fachverbänden sollen verbesserte Versorgungskonzepte entwickelt werden. Menschen sollten konsequent nach einem Suizidversuch eine längerfristige suizidpräventive Betreuung erhalten.
Basierend auf einer Auswertung von fast 1800 Publikationen in den vergangenen zehn Jahren wurden evidenzbasierte Maßnahmen identifiziert: Der am besten belegte Effekt ergab sich für Methodenrestriktionen, das sind Maßnahmen, die den Zugang zu Mitteln oder Orten für einen Suizidversuch begrenzen. Die Wirksamkeit solche Maßnahmen ist deshalb besonders hoch, weil Menschen mit der Absicht zur Selbsttötung in Abhängigkeit von der unmittelbaren Verfügbarkeit einer Suizidmethode handeln. Aufgrund dessen ist es von Bedeutung, Suizid-Hotspots, etwa bestimmte Brücken oder Bahnstrecken/Bahnübergänge zu identifizieren und diese durch geeignete bauliche Maßnahmen abzusichern. Dies ist wirksam deshalb, weil festgestellt werden konnte, dass Menschen mit Suizidabsicht nicht in jedem Fall einen Weg zur Umsetzung suchen und finden. Eine weitere methodenbegrenzende Option ist die Verringerung der Packungsgrößen von Schmerzmitteln und der Verfügbarkeit von Pestiziden.
Um solche Methoden für Deutschland relevant zu identifizieren, soll ein detailliertes deutschlandweites Suizidregister mit pseudonymisierten Daten über alle Suizide auf einer gesetzlichen Grundlage etabliert werden. Das Register soll permanent wissenschaftlich ausgewertet werden und kann dann zur Ableitung methodenbegrenzender Maßnahmen dienen.
Aufgebaut werden soll eine nationale Kompetenz- und Koordinierungsstelle, wie sie auch die Taskforce empfiehlt. Nach dem Vorbild von Bayern und Berlin soll ferner eine fachkompetente Nothilfe mit einem 24/7 erreichbaren Krisendienst unter einer bundeseinheitlichen Telefonnummer (113) eingerichtet werden. Der Krisendienst soll, neben einer telefonischen Sofortberatung, notfalls auch einen Vor-Ort-Besuch ermöglichen.
Lauterbach hält es für denkbar und sinnvoll, das Gesetz zur Suizidprävention in Kombination mit einem neuen Anlauf für ein Gesetz zum assistierten Suizid zu beraten. Die gegenwärtige Rechtslage sei durch Unsicherheit geprägt und unbefriedigend. Die beiden Gesetze sollten aber nicht durch Bedingungen miteinander verknüpft sein; die Zielgruppen des Suizid-Präventionsgesetzes und des Gesetzes zum assistierten Suizid seien völlig unterschiedlich. Ferner müsse die Initiative für ein Gesetz zum assistieretn Suizid aus der Mitte des Bundestages kommen.