Eine Forscherin, die eine Entdeckung macht, trifft auf Schwerkranke, die nichts unversucht lassen wollen. Wie der Hype um ein angebliches Mittel gegen Krebs das Vertrauen in die Schulmedizin untergräbt.
Methadon. Das Mittel ist bekannt als Drogenersatz, den Abhängige für den Weg aus der Sucht bekommen. Doch seit einiger Zeit macht die Substanz Karriere als angebliches Hilfsmittel in der Krebstherapie. Zu schön, um wahr zu sein? Experten mehrerer Fachrichtungen haben in den vergangenen Monaten auf eine sehr dünne Studienlage hingewiesen, vor verfrühten Hoffnungen und Nebenwirkungen gewarnt. Sie rieten klar vom Einsatz des Schmerzmittels in der Tumortherapie ab. Doch bei vielen der oft höchst verzweifelten Patienten stoßen die Warnungen auf taube Ohren. Sie wenden sich Ärzten zu, die Methadon verschreiben. Schwere Verläufe und ein Todesfall sind die Folge, wie kürzlich das Ärzteblatt berichtete.
Der Ansturm auf Methadon begann vor Monaten mit TV-Berichten über die Chemikerin Claudia Friesen vom Institut für Rechtsmedizin der Uni Ulm. Sie hatte Methadon in Zellkulturen und Tierversuchen getestet und brachte es als möglichen Wirkverstärker für Chemotherapien ins Gespräch. Ihre Versuche entsprechen einer sehr frühen, von der Öffentlichkeit meist unbemerkten Phase der Forschung, die keine Aussagekraft zur Wirksamkeit beim Menschen hat. Forscher weltweit suchen nach Wirkstoffen gegen Krebs - selbst das Zika-Virus ist dabei aktuell im Gespräch. Doch ob sich solche Ideen am Ende als Therapie bewähren, steht auf einem völlig anderen Blatt.
Friesens Forschung fand auch deshalb früh Aufmerksamkeit, weil es Patienten gibt, bei denen eine Besserung durch Methadon beobachtet worden sein soll. Selbst wenn dem so war: Solche Einzelfälle gelten in der Medizin keinesfalls als Beweis. Vielmehr sind große, systematisch angelegte Studien nötig, in denen die Wirksamkeit eines Medikaments im Vergleich zu einem Placebo getestet wird.
Doch die klassischen Regeln der Wissenschaft spielen in der Debatte um Methadon nur noch am Rande eine Rolle. Friesen sagt, sie bekomme inzwischen 200 bis 1000 Anfragen von Ärzten und Patienten pro Tag, während eines Telefonats mit ihr klingeln permanent Telefone. Bei Youtube finden sich hundertausendfach angeklickte Videos mit Titeln wie: "Diese Frau findet ein Mittel gegen Krebs - doch die Pharmaindustrie zerstört den Traum". Eine Behauptung ist, dass der vergleichsweise niedrige Preis von Methadon der weiteren Erforschung im Weg stehe. Involvierte Forscher werfen sich zudem gegenseitig Interessenskonflikte vor.
Die Folgen zeigen sich in Kliniken. Ärzte berichten von einem Methadon-Hype: Sie würden mit Anfragen zu Methadon überrannt und unter Druck gesetzt, das Mittel in der Tumortherapie einzusetzen. Jegliches Vertrauen scheint dahin. "Wir sehen mit Schrecken, was hier passiert", sagt der Palliativmediziner Sven Gottschling vom Universitätsklinikum Homburg/Saar der Deutschen Presse-Agentur. In seiner Klinik hätten schon mehrere schwierige Fälle mit Überdosen behandelt werden müssen. Ein Patient habe seinen Hausarzt zur Verschreibung überredet und Dosierungsempfehlungen auf eigene Faust aus dem Internet geholt.
Ein Bericht des Schweizer Senders SRF, wonach Ärzte auch dort vermehrt mit solchen Notfällen zu tun haben, stützt Gottschlings Angabe, wonach bundesweit von solchen Fällen auszugehen ist. Der Arzt hat zudem beobachtet, dass manche Patienten inzwischen Methadon an sich für ein Krebsmittel hielten und ihre bisherige Therapie aufgäben. Friesen legt Wert darauf, das Mittel als möglichen Wirkverstärker der Chemotherapie ins Gespräch gebracht zu haben.
Die Überdosen begründen Experten zum einen damit, dass die kursierenden Empfehlungen zur Dosierung relativ hoch seien. Hinzu kommt: Methadon werde von Mensch zu Mensch unterschiedlich schnell abgebaut, so Gottschling. Schmerzmediziner sprechen von einer problematischen Substanz, die nicht leichtfertig verschrieben werde. Mögliche Nebenwirkungen wie Verstopfung, Übelkeit und Angst würden bisher in der Debatte verharmlost.
Unter anderem dem Problem der Dosierung will Wolfgang Wick von der Uniklinik Heidelberg und dem Deutschen Krebsforschungszentrum nachgehen. Der Neuroonkologe hat eine Studie beantragt, um die Auswirkungen von Methadon und bereits zugelassenen Medikamenten in Ergänzung zur Chemotherapie auf das Tumorwachstum bei Patienten mit neu diagnostizierten Hirntumoren zu erproben. "Kurz gesagt wollen wir prüfen, ob man im Menschen die nötigen Wirkspiegel erreichen kann, ob das verträglich und dann auch effektiv gegen den Tumor ist", sagt Wick. Es handle sich um eine sehr frühe Phase, betont er. Mit einem Start sei frühestens Mitte 2018 zu rechnen.
Chemikerin Claudia Friesen vermittelt bei Anfragen an ein Netzwerk von Ärzten, die Methadon als Schmerzmittel einsetzten, wie sie erklärt. Zu den im Ärzteblatt beschriebenen problematischen Verläufen erklärt sie, dies zeige Wissenslücken bei Ärzten. Auch halte sie die Fälle teils für unzureichend dokumentiert, teils für Behandlungsfehler. Den Vorwurf, falsche Hoffnungen geweckt zu haben, weist sie zurück. Jede Therapie brauche Hoffnung. Von Versprechen auf Heilung habe sie sich stets distanziert.
Und die Patienten und ihre Angehörigen? Aussagen von Ärzten nach zu urteilen, haben sich Misstrauen und Verunsicherung breitgemacht. Mediziner Sven Gottschling sucht einen Mittelweg zwischen verhärteten Fronten. Sprechstunden zum Thema Methadon mit Beratungen zur Frage, ob es als Schmerzmittel und "letzter Anker" in Frage komme, seien geplant. Sein großer Wunsch: "Man muss es differenzierter betrachten".