Eine Achsabweichung der Beine, wie dies bei O-Beinen der Fall ist, begünstigt die Entstehung einer Arthrose in den Kniegelenken, vor allem bei Übergewicht. Da der Druck sich nicht mehr gleichmäßig in den Gelenken verteilt, werden an hochbelasteten Stellen Knorpel und Knochen intensiver als an anderen Stellen abgebaut. Das haben Forschende und OrthopädInnen in einer aufwändigen Studie nachgewiesen. Diese ist nun im "Science Translational Medicine" erschienen, einem der international angesehensten Wissenschaftsjournale.
"Wenn beim Auto die Spur falsch eingestellt ist und die Reifen einseitig abgefahren sind, nutzt es auch nichts, neue Reifen aufzuziehen. Solange die Spur nicht richtig eingestellt ist, wird sich auch der neue Satz Reifen schnell abfahren", sagt Henning Madry, Professor für Experimentelle Orthopädie und Arthroseforschung an der Universität des Saarlandes. Sein Team um die Erstautoren Sophie Haberkamp und Tamás Oláh hat nachgewiesen, dass sich eine Achsabweichung der Beine, etwa O-Beine, massiv auf die Entstehung einer Arthrose in bestimmten Bereichen des Kniegelenks auswirkt.
Fünf Jahre lang haben die WissenschaftlerInnen extrem detailreiche räumliche Aufnahmen der Kniegelenke von ArthrosepatientInnen mit O-Bein-Achsabweichung untersucht. „Das ist vergleichbar mit der sehr scharfen und hochaufgelösten topographischen Kartierung eines sehr weit entfernten Planeten“, vergleicht Madry den Schwierigkeitsgrad. Die Forschenden haben zudem rund 100 Gewebeproben von explantierten Kniegelenken analysiert, die bei PatientInnen entnommen wurden, denen eine Prothese eingesetzt wurde.
Das Team war auch davon ausgegangen, dass die Gradzahl der Abweichung – also der Winkel zwischen Ober- und Unterschenkel – über die Stärke der Arthrose auf der überlasteten Innenseite des Kniegelenks entscheidet, weil dort nach Annahme de WissenschaftlerInnen der meiste Druck lastet. Doch diese Hypothese habe sich überraschenderweise nicht bestätigt, so Madry.
Der größte Schaden befände sich zwar auf der Innenseite, denn der Knorpel sei bei den untersuchten PatientInnen so gut wie weg gewesen, dennoch habe es keinen Zusammenhang zwischen Achsabweichung und Knorpelzerstörung gegeben. Das könnte laut Forschungsteam mit einer fehlenden Adaptationsmöglichkeit dieses massiv überlasteten Gelenkanteils zusammenhängen. Knorpelregenerative Therapien aber seien damit an dieser Stelle wirkungslos. "Unsere Erkenntnisse sind auch sehr wichtig für künftige klinische Studien. Diese sollten sich in fortgeschrittenen Fällen gar nicht auf die sehr geschädigte Seite konzentrieren, da sich dort ja sowieso nichts mehr regenerieren kann. Eine Therapie hilft nichts, wenn die Ursache, nämlich die Achsabweichung, nicht korrigiert ist", schlussfolgert Madry. In den Frühstadien der Arthrose sollte bei einer gleichzeitigen Achsabweichung parallel auch letztere behandelt werden.
Madry will nochmal betont wissen, dass Übergewicht die Arthrose verstärkt. Je mehr Gewicht auf ein nicht richtig stehendes Gelenk drücke, desto größer sei der Schaden. ÄrztInnen und Ärzte würden übergewichtigen PatientInnen zwar ohnehin raten, möglichst Gewicht zu verlieren, um den Druck auf die Gelenke zu verringern. "Nun haben wir aber mit unseren Daten auch eine wissenschaftliche Untermauerung für dieses medizinische Wissen, dass Übergewicht ein Treiber für das Fortschreiten der Arthrose ist", sagt Madry, der auch als klinischer Orthopäde am Universitätsklinikum des Saarlandes tätig ist.
Dieser Erkenntnisse geht eine jahrelange Fleißarbeit voraus. So wurden aus neun Knieexplantaten jeweils 10 Zehn-mal-zehn-Millimeter-Würfelchen herausgeschnitten, um daraus etwa 1000 bis 2000 Schichtbilder im Mikro-Computertomographen aufzunehmen, um den Knochen unter dem Knorpel zu beurteilen. Die Erstellung eines Würfels kann mehrere Stunden dauern. Die Bilder müssten rekonstruiert und ausgemessen werden, die Gewebeprobe histologisch mit verschiedenen Spezialfärbungen und biochemisch weiter untersucht werden. Schließlich müssten die Schichtaufnahmen ausgewertet und zusammen mit den anderen Ergebnissen, darunter auch klinischen Daten von den PatientInnen, interpretiert werden, so Madry.
Quelle:
S. Haberkamp, T. Oláh, P. Orth, M. Cucchiarini, H. Madry, Analysis of spatialosteochondral heterogeneity in advanced knee osteoarthritis exposes influence of joint alignment. Sci. Transl. Med.12, eaba9481 (2020). DOI: 10.1126/scitranslmed.aba9481