Heute ist ein recht guter Tag für Christian Fischer. “Alles im Griff”, sagt er. Der 56-Jährige (Name geändert) leidet seit Jahren an einer manisch-depressiven Störung. Heute erzählt er seinem Psychiatrie-Pfleger vom Bahnstreik, von der Führerscheinprüfung seines Sohns, vom Konzertbesuch mit seiner Freundin. Alltagsthemen. Pfleger Hubert Kießling hört aufmerksam zu, beobachtet die Mimik Fischers. Sein Gesicht ist gut zu erkennen, auch wenn es leicht verpixelt ist. Sein Patient sitzt ihm nicht gegenüber, sondern 30 Kilometer entfernt im schwäbischen Kreis Krumbach.
Im Bezirkskrankenhaus Günzburg werden Patienten seit 2012 auch per Webcam psychiatrisch betreut. Telepflege ist bisher die Ausnahme in Deutschland. In der Psychiatrie-Pflege geht es nicht um Waschen und Wadenwickel. Eigentlich zählt der persönliche Kontakt, die Hausbesuche, die Gespräche. Trotzdem setzt die Klinik auf das Modellprojekt. Zur Zeit werden vier Patienten via Bildschirm betreut.
Nicht jeder ist dafür geeignet. “Die Patienten werden sorgfältig ausgewählt”, sagt Nervenärztin Susanne-Carola Mattiesen. Vor der Pflege am Bildschirm müssen sie mindestens ein halbes Jahr persönlich betreut werden. Menschen mit Wahnvorstellungen und ausgeprägter Demenz scheiden aus. Zielgruppe sind Patienten, die sowieso viel Zeit am PC verbringen, eher zurückgezogen leben. “Patienten mit sozialen Ängsten müssen sich so nicht ins Wartezimmer setzen, werden nicht mit anderen Menschen konfrontiert”, sagt Mattiesen. Dadurch könnten sie Hürden überwinden.
Hubert Kießling sieht seinen langjährigen Patienten Fischer seit drei Jahren auch per Webcam. Die beiden vereinbaren feste Zeiten für ihre Videogespräche. “Wenn ich sehe, dass er online ist, wähle ich ihn auch mal spontan an”, sagt Kießling. Manchmal dauern die Chats zehn Minuten, manchmal eine halbe Stunde. Manchmal geht es um Alltägliches, manchmal um schwere Krisen. Aus Datenschutzgründen wird nichts davon aufgezeichnet.
Für Kießling zählt bei den Videogesprächen die Mimik. “Am Telefon kann man viel überspielen”, sagt er. “Aber die Mimik verrät viel.” Die Telepflege sei nur ein Zusatzangebot, ein schneller und einfacher Draht zu den Patienten, die teils Dutzende Kilometer entfernt wohnen. Den persönlichen Kontakt ersetzen kann die Webcam nicht. “Wenn ich sehe, dass es ihnen schlecht geht, muss ich trotzdem rausfahren”, berichtet Kießling.
“Das macht durchaus Sinn”, sagt auch Johanna Knüppel vom Berufsverband für Pflegeberufe. Aber sie sieht auch Risiken im Bereich der Psychiatrie, wo es auch um existenzielle Krisen und Selbstmordabsichten geht. “Die Pfleger müssen sehr sensibel in der Wortwahl sein, gut zuhören und zwischen den Zeilen lesen, damit sie nicht mehr Schaden als Nutzen anrichten”, warnt sie. “Und auch auf dem Bildschirm sehen sie nicht alles.” Die kostengünstige Telepflege dürfe die persönliche Betreuung nicht verdrängen. “Es besteht durchaus die Gefahr, dass allein durch den Kostendruck der Kliniken der Patient und die gute Versorgung hinten runterfällt.”
Patient Fischer ist überzeugt von den Videochats. “Es ist gut für Notfallsituationen, wenn ich eine depressive Phase habe”, sagt er. Mit einem Mausklick ist der 56-Jährige dann mit seinem Pfleger verbunden. Die beiden unterhalten sich zwei bis drei Mal die Woche über das Internet, manchmal auch täglich. Das kann zwar seine persönlichen Treffen und Spaziergänge nicht ersetzen, weiß auch Fischer. Aber: “Es ist persönlicher als am Telefon.”
Text und Foto: dpa /fw