Mehr als vier Millionen Menschen in Deutschland leiden dauerhaft unter krankhaften Ohrgeräuschen – einem Tinnitus. Bei bis zu zehn Millionen Erwachsenen treten Ohrgeräusche im Jahresverlauf zumindest kurzzeitig auf. Die Gründe sind vielfältig: Sie reichen von einer Schädigung des Ohrs aufgrund von Lärm über Kieferverspannungen, Herz-Kreislauf-Krankheiten bis hin zur Morbus Ménière. Einige Erkrankte treiben die Dauergeräusche regelrecht in den Wahnsinn, so dass sie für jede Therapiemöglichkeit dankbar sind. Das Start-up Tinnitracks setzt auf einen neuen Behandlungsansatz: Durch Hören der eigenen Lieblingsmusik für mindestens 90 Minuten am Tag soll das Leiden gelindert werden. esanum sprach mit Jörg Land, Geschäftsführer und zuständig für Marketing und Business Development bei der Sonormed GmbH, die Tinnitracks auf den Markt gebracht hat und vertreibt.
esanum: Tinnitracks bietet eine Behandlung eines Tinnitus mit Hilfe der persönlichen Lieblingsmusik. Wie funktioniert das?
Land: Mit Tinnitracks beziehungsweise der Tinnitracks-App können Patienten ihre eigene Musik zur Therapie aufbereiten. Dabei wird der Bereich der individuellen Tinnitus-Frequenz präzise aus der Musik gefiltert. Danach wird das Therapiepotential der einzelnen Lieder analysiert und bei Eignung mit einer grünen Ampel markiert. Schließlich wird die Musik optimiert – beispielsweise hinsichtlich des Frequenzgangs ausgesuchter Kopfhörer. Wir haben es daher mit einer individuellen Behandlung zu tun, die eine gezielte Stimulation ermöglicht.
Die Therapie wird nach der Bearbeitung der Musik über geschlossene Kopfhörer für mindestens vier Monate und mindestens 90 Minuten am Tag durchgeführt. Die Akzeptanz und die Therapietreue sind hoch, da die Einstiegshürden niedrig sind, die Therapie leicht in den Alltag zu integrieren und auch keine Stigmatisierung zu befürchten ist.
Die Durchführung ist dank der neuen Tinnitracks-App denkbar einfach, weil diese wie ein bekannter Musikplayer konzeptioniert wurde. Die gesamte Komplexität wird im Hintergrund abgebildet.
esanum: Welche Wirkung soll das Hören der eigenen Musik erzielen?
Land: Das Hören von individuell frequenzgefilterter Musik kann bei Tinnitus-Patienten (tonaler, chronischer Tinnitus) zu einer Reduktion der empfundenen Tinnitus-Lautstärke und damit der Belastung führen. Die neuronale Verarbeitung dieser frequenzgefilterten Musik führt in zentralen Strukturen des Gehirns zu einer hemmenden Wirkung, die der Tinnitus assoziierten Übererregbarkeit spezifischer Neuronengruppen des auditorischen Kortex entgegenwirkt. Diese Übererregbarkeit spezifischer Neuronengruppen des auditorischen Kortex wird als Grundlage für die Tinnitus-Wahrnehmung betrachtet.
esanum: Gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse oder Studien, die eine Verbesserung des Tinnitus durch Musik belegen?
Land: In den vergangenen Jahren der Hirnforschung konnten intensive klinische Forschung und Grundlagenstudien eine Reihe von entscheidend neuen Ergebnissen vorlegen. Dabei zeigte sich, dass ein subjektiver tonaler Tinnitus mit einer fehlerhaften Organisation innerhalb des auditorischen Kortex und mit einer abnorm erhöhten Erregbarkeit der Nervenzellen innerhalb der Hörrinde einhergeht.
Als primärer Auslöser für die Entstehung des Tinnitus gilt die Deafferenzierung (Blockierung der Informationsleitung) der zentralen auditorischen Strukturen durch eine Schädigung der Hörschnecke (Cochlea) und die dadurch erzeugte sensorische Deprivation nachgeschalteter Stationen der auditorischen Verarbeitung. Der Cochlea-Schaden kann dabei versteckt sein und erst Jahre nach der Verletzung festgestellt werden. Verminderter sensorischer Input führt aufgrund der neuronalen Plastizität des Gehirns zu Umbauvorgängen und damit zur Veränderung neuronaler Verschaltungen. Diese Umbauvorgänge können zu einer fehlangepassten Reorganisation neuronaler Verbindungen führen, wodurch sich ein Ungleichgewicht von erregender und hemmender Nervenzellaktivität aufbaut und zu Hyperaktivität von Nervenzellen führt, was in einem Tinnitus enden kann. Aus diesem Grund wird Tinnitus in der aktuellen Forschung als Erkrankung betrachtet, die auf fehlgeleiteter neuronaler Plastizität beruht.
Die Tatsache der neuronalen Plastizität kann gezielt genutzt werden, um die Folgen fehlgeleiteter Reorganisation wieder umzukehren – und zwar durch die gezielte Gestaltung der sensorischen Umwelt mit der Präsentation gefilterter auditorischer Signale. Genau das ist der Ansatzpunkt des sogenannten TMNMT (Tailor-Made-Notched-Music-Training)-Verfahrens, das bei Tinnitracks zur Anwendung kommt.
esanum: Welche Art der Musik eignet sich zur Behandlung? Wie ermitteln Sie die Erfolgsaussichten?
Land: Es kommt ganz auf die Tinnitus-Frequenz des Betroffenen an. Aus diesem Grund haben wir die Therapiepotenzialanalyse entwickelt. Sie überprüft jedes Musikstück bezogen auf den Tinnitus des Patienten. Das Ergebnis wird dann in Form einer Ampel dargestellt, wobei rote Lieder über wenig Therapiepotenzial verfügen. Wenn ein Lied für eine Frequenz nicht zur Therapie geeignet ist, dann bedeutet dies nicht automatisch, dass dies für eine andere Frequenz auch gilt.
Durch die Prüfung der Musik bezogen auf die individuelle Tinnitus-Frequenz ist eine pauschale Vorhersage nicht möglich. Hörbücher sind beispielsweise wenig geeignet.
esanum: Die Behandlung eines Tinnitus durch klassische Therapien ist häufig wenig erfolgversprechend. Inwieweit setzen Ärzte (HNO, Orthopädie) Tinnitracks als Ergänzung zur Behandlung ein?
Land: Tinnitracks ist nicht für jede Art des Tinnitus geeignet. Wir haben eine Lösung für den weit verbreiteten tonalen, chronischen und subjektiven Tinnitus entwickelt.
Generell lässt sich sagen, dass Tinnitracks immer häufiger von HNO-Ärzten und Hörgeräteakustikern empfohlen wird. Wir erhalten die Rückmeldung, dass bei einem tonalen Tinnitus die Therapieform aufgrund der vorhandenen Studien, der niedrigen Einstiegshürden und der hohen Therapietreue (in den Alltag integrierbar, keine Stigmatisierung) gut ankommt.
esanum: Welche Leistungen übernehmen die Krankenkassen?
Land: Die Krankenkassen erstatten Tinnitracks derzeit noch nicht. Die Technologie und das Angebot sind neu am Markt und müssen erst mal bekannt gemacht werden. Selbstverständlich sprechen wir auch mit den Kassen, müssen jedoch die Vorlaufzeiten für eine Erstattung respektieren und nutzen die Zeit, die Technologie weiterzuentwickeln.
Mit der Tinnitracks-App bieten wir aber ein Modell, das zum Testen einlädt.
www.tinnitracks.com
Interview: V. Thoms