Die Anästhesie, Intensiv- und Notfallmedizin stehen in einem Spannungsfeld. In kaum einem anderen Bereich zeigt sich so deutlich der medizinische Fortschritt, der unter anderem zu deutlich nebenwirkungsärmeren Anästhetika geführt hat und damit direkt den Patienten zugute kommt. Zum anderen hängt die Leistungsfähigkeit insbesondere in der Intensiv- und Notfallmedizin von der medizintechnischen Ausstattung und genüg Personal ab. Anästhesisten, Intensiv- und Notfallmediziner arbeiten als klassische Klinikärzte unter dem ständigen Diktat der Krankenkassen, Kosten einzusparen. Am Ende leidet zwangsläufig die Versorgungsqualität.
Dieser Spagat wird eines der Themen auf der 63ten Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) sein, die vom 14. bis 16. April in Leipzig stattfindet. Kongresspräsident Professor Frank Wappler, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin in Köln-Merheim, gibt im Interview einen Überblick über die Inhalte der Jahrestagung und spricht über aktuelle Entwicklungen in seinem Fachbereich.
esanum: Professor Frank Wappler, das Motto des Deutschen Anästhesiecongress lautet “AINS 2.0 – die Zukunft gestalten”. Was verbirgt sich dahinter?
Professor Frank Wappler – Präsident des Deutschen Anästhesiecongresses 2016
Wappler: AINS steht für die vier Säulen unseres Fachgebiets – Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie. Damit soll bereits bei der Namensgebung der 63ten Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin darauf hingewiesen werden, dass alle Bereiche unseres Faches gleichermaßen auf dem Kongress dargestellt werden. In allen vier Bereichen hat es neue Entwicklungen gegeben und unsere Fachgesellschaft hat zahlreiche innovative Projekte gestartet wie zum Beispiel die Telemedizin oder Maßnahmen zur Steigerung und Sicherung der medizinischen Qualität. Hierüber wird in einer Vielzahl hochkarätig besetzter Sitzungen referiert und diskutiert.
Allerdings verändern sich die Rahmenbedingungen innerhalb derer medizinische Leistungen erbracht werden müssen. Stichworte hierfür sind Rationalisierung und Kostenexplosion im Gesundheitswesen, Unterfinanzierung medizinischer Leistungen sowie der eklatante Mangel an Pflegepersonal. Darüber hinaus erleben wir eine Veränderung der Ansprüche und Vorstellungen der Beschäftigten in allen medizinischen Bereichen. An dieser Stelle seien nur die wachsende Inanspruchnahme von Teilzeitarbeit, insbesondere in der Anästhesie, sowie veränderte Vorstellungen zur “Work-Life-Balance” genannt. Es bedarf daher einer Neuausrichtung in der Medizin. In diesem Kontext soll “2.0” darauf hinweisen, dass es zu einem Wandel kommen wird und muss. Letztlich ist es unsere Aufgabe, sich dieser Themen anzunehmen, aktiv alle notwendigen Änderungen zu begleiten und somit die Zukunft zu gestalten.
esanum: Welche Anforderungen stellen Ärzte und Patienten heute an Narkose- und Überwachungsverfahren?
Wappler: Die grundlegende Anforderung hierbei ist die höchstmögliche Patientensicherheit. Narkosemedikamente sollen sicher, zuverlässig in ihrer Wirkung sein und dabei nebenwirkungsarm; und natürlich gut zu steuern. Dieser Zielsetzung sind wir inzwischen sehr nahe gekommen. Uns stehen Anästhetika mit schnellem Wirkungseintritt sowie kurzer Wirkdauer zur Verfügung, mit der die Anästhesie exzellent gesteuert werden kann. Auch die Nebenwirkungsrate hat sich mit der Entwicklung neuer Präparate deutlich verringert.
Die modernen Überwachungsverfahren bieten heute die Möglichkeit, die Vitalfunktionen der Patienten sicher und zuverlässig zu erfassen. Hinzu sind neue Technologien und Messparameter gekommen, die eine umfassende Überwachung gewährleisten. Über drahtlose Systeme können Patienten mittlerweile auch außerhalb des OPs und der Intensivstationen lückenlos überwacht werden – und bei Bedarf ist durch frühzeitige Erkennung von Veränderungen eine schnelle Intervention möglich.
Während Anästhesie und Intensivmedizin heute über sichere Medikamente und Verfahren sowie innovative Überwachungsmöglichkeiten verfügen, zeigen zahlreiche Untersuchungen, dass der “Faktor Mensch” eine zunehmend wesentlichere Rolle im Rahmen der Patientensicherheit spielt. So belegt beispielsweise eine aktuelle Studie, dass die Versorgung durch mehrere Ärzte und Pflegekräfte aufgrund von zu vielen Schnittstellen zu erhöhten postoperativen Komplikationsraten führt. Die Ursachen hierfür sind vielfältig, Faktoren wie Arbeitsverdichtung oder Flexibilisierung von Arbeitszeitmodellen seien nur als Beispiele genannt.
Die DGAI widmet sich dieser Problematik seit Längerem und befasst sich intensiv mit der Entwicklung und Implementierung von Konzepten zur Optimierung der Patientensicherheit. So war die DGAI Vorreiter bei der Entwicklung des Critical Incident Reporting Systems, hat die Plattform “Patientensicherheit-AINS” initiiert und die Zertifizierung in der Intensivmedizin eingeführt.
esanum: Insbesondere in der Anästhesie zeichnet sich eine zunehmende Technisierung ab. Was versprechen Sie sich von der Telemedizin? Welche konkreten Entwicklungen gibt es?
Wappler: Künftig ist eine zunehmende Diskrepanz zwischen dem Bedarf und dem Angebot medizinischer Leistungen zu erwarten. Als ursächlich seien hier nur die demografische Entwicklung in Deutschland, ein steigender Bedarf an medizinischen Leistungen und das Problem der Sicherstellung einer ortsnahen Patientenversorgung unter Wahrung des Facharztstandards, genannt.
In der Notfallmedizin werden beispielsweise ständig steigende Einsatzzahlen verzeichnet. Die zunehmende Auslastung des ärztlichen Personals an den vorhandenen Notarztstandorten führt dazu, dass nicht in allen Fällen eine zeitlich unmittelbare Verfügbarkeit eines Notarztes sichergestellt werden kann. Auch haben sich die Zeiten bis zum Eintreffen eines Notarztes in zahlreichen Regionen deutlich verlängert, insbesondere in ländlichen Regionen führt das zu Versorgungsproblemen.
Die Telemedizin könnte hierfür einen Lösungsansatz darstellen. Die DGAI hat von daher eine ständige Kommission gegründet, um bundesweit Lösungen für diese Problematik zu erarbeiten. Erste Studienresultate belegen eindrucksvoll, dass die Telemedizin zu Vorteilen in der Versorgungsqualität als auch der Qualität in der Patientenversorgung führt. Dies betrifft unter anderem die Versorgung von Patienten mit Schlaganfall oder Patienten mit Herzerkrankungen.
Derzeit gibt es hierzu sehr vielversprechende Projekte an einigen Standorten in Deutschland. Eine flächendeckende Etablierung bedarf jedoch entsprechender Strukturmaßnahmen der beteiligten Institutionen sowie einer ausreichenden Finanzierung.
esanum: Die Medizin befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen meist teuren Innovationen, medizinischem Fortschritt und Kostendruck. Kliniken können beispielsweise Spezialisten für Kinder- und Kardioanästhesie oft nicht mehr vorhalten. Wie beurteilen Sie die Versorgungssituation in deutschen Krankenhäusern?
Wappler: Wesentlich zur ist es, zunächst eine konkrete Bedarfskalkulation vorzunehmen und zu prüfen, wo und in welcher Form mögliche Versorgungslücken für die Bevölkerung bestehen. Weiterhin gilt es zu diskutieren, ob jedes Krankenhaus eine breit aufgestellte medizinische Angebotspalette vorhalten muss oder ob es sinnvoller erscheint, eine genau zu definierende “Basisversorgung” flächendeckend anzubieten, während hochspezialisierte Leistungen ausgewählten Institutionen vorbehalten bleiben sollten.
Die Versorgungssituation in den Krankenhäusern selbst unterscheidet sich erheblich. Während einige Häuser finanziell noch ausreichend ausgestattet sind, bestehen bei vielen bereits jetzt zum Teil erhebliche Defizite, deren Ursachen vielfältig sind und dramatische Folgen haben. Durch die Unterfinanzierung werden unter anderem notwendige Investitionen in die medizinische Ausstattung und Struktur hinausgezögert oder auch gänzlich unmöglich gemacht. Weiterhin kommt es zu Personaleinsparungen, die sich ebenfalls negativ auf die Versorgungssituation auswirken. So müssen beispielsweise auf den Intensivstationen Intensivpflegekräfte häufig mehr Patienten betreuen als aus medizinischer Sicht verantwortbar ist.
Ohne Frage muss die Finanzierung medizinischer Leistungen in der gegenwärtigen Form hinterfragt werden. Es bedarf einer nachhaltigen Sicherstellung einer adäquaten materiellen sowie personellen Ausstattung der Kliniken, um eine adäquate Diagnostik, Therapie und Sicherheit der Patienten zu gewährleisten.
esanum: Seit einiger Zeit sind “Neue orale Antikoagulantien” (NOAK) im Einsatz. Was sind Ihre Erfahrungen damit?
Wappler: Die Substanzgruppe der NOAK wird zur gerinnungshemmenden Therapie bei Patienten mit kardialen Erkrankungen und erhöhtem Risiko für Thromboembolien sowie zur Thromboembolieprophylaxe nach orthopädischen Operationen eingesetzt. Wesentliche Vorteile dieser Substanzen sind der rasche Wirkeintritt sowie eine gut vorhersehbare Wirkung bei einer fixen Dosierung. Darüber hinaus sind im Gegensatz zu früheren Substanzen keine regelmäßigen Laborkontrollen notwendig. Die Blutungskomplikationsraten sind geringer.
Von Nachteil ist hingegen, dass eine Wirkungskontrolle mit den üblichen Gerinnungstests nicht möglich ist. Darüber hinaus steht nicht für alle NOAK ein Antidot zur Verfügung. Erst vor wenigen Wochen erhielt hingegen ein Antidot für Dabigatran eine EU-Zulassung.
Der perioperative Umgang mit einer NOAK-Medikation hängt unter anderem vom geplanten Eingriff, den Begleiterkrankungen des Patienten sowie dem gewählten Anästhesieverfahren ab. Es ist deshalb wichtig, Patienten für elektive Operationen frühzeitig in der anästhesiologischen Ambulanz vorzustellen, um eine adäquate Planung der perioperativen Therapie vornehmen zu können. Insbesondere muss hierbei geklärt, ob die NOAK-Therapie ausgesetzt werden muss und gegebenenfalls eine Umstellung auf andere Substanzen während des Krankenhausaufenthalts indiziert ist. Hieraus ergibt sich, dass die Betreuung von Patienten mit NOAK-Therapie individuell geplant und gestaltet werden muss.
Bei dringenden oder Notfalloperationen müssen wir prüfen, ob beziehungsweise durch welche Maßnahmen den gerinnungshemmenden Eigenschaften der NOAK entgegengewirkt werden kann oder muss.
Interview: V. Thoms
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