Prof. Dr. Tilman Kälble - Präsident der DGU
Fragen an Prof. Dr. Tilman Kälble, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Urologie, Direktor der Klinik für Urologie und Kinderurologie Fulda zum 69. Kongress der DGU, dessen Tagungspräsident er zugleich ist.
esanum: Ihr selbst erklärtes Ziel ist es, den Begriff Urologie zur unverwechselbaren Marke für die Therapie von Erkrankungen des gesamten Urogenitaltraktes beider Geschlechter und für alle Altersgruppen zu etablieren. Steckt das hinter dem Kongress-Motto: "Für alle. Für jeden. Für uns."?
Kälble: Ganz genau. Hintergrund ist, dass die Urologie eine Erfolgsgeschichte ist. In den letzten dreißig, vierzig Jahre hat sich dramatisch viel getan. Sei es die Inkontinenztherapie der Frau, die wir minimalinvasiv machen können. Seien es onkologische Erkrankungen, z. B. radikale Prostataentfernung mit Potenzerhalt, Harnableitungen ohne Stoma, miniaturisierte Endoskope, womit wir Steine ohne jeglichen Schnitt entfernen. Und auch medikamentös und bildgebend hat sich extrem viel getan. So dass wir sagen können, unser Fach ist sehr breit aufgestellt. Und daher bezieht sich mein Kongressmotto auf Prof. Roth vor zwei Jahren, der damals zum Kongress in Düsseldorf eine Umfrage gemacht hat: Was ist ein Urologe? Und da wurden wir reduziert auf Ärzte, die Männern den Finger in den Hintern stecken. Was alles dazugehört, das weiß einfach niemand. Das ist für mich abenteuerlich.
esanum: Das wollen Sie natürlich ändern?
Kälble: Ja, das ist die eine Seite. Und gleichzeitig entwickeln mehr und mehr Fachdisziplinen an Schnittstellen Begehrlichkeiten. Also Transplantations-Chirurgen bei Nierentransplantationen. Bei der Uroonkologie die Gynäkologen, bei der Kinderurologie die Kinderchirurgen. Hinzu kommt, dass die Urologie das höchste Wachstumspotenzial aller Fachdisziplinen hat. Doch gleichzeitig sind wir nicht besonders beliebt, was Umfragen unter Medizinstudenten zeigen.
esanum: Woran liegt das?
Kälble: Unser Fach wird im Medizinstudium nicht gut abgebildet. So kommen wir in die Situation: es gibt immer mehr Patienten, es gibt Nachwuchsprobleme und immer mehr wird an unserem Fachgebiet geknabbert. Und das ist der Grund zu sagen: Lasst uns ganz breit auf unserem Kongress darstellen, was alles zur Urologie gehört. Was wir alles leisten können und was wir tun müssen, dass das bei uns bleibt, was zu unserem Fachgebiet gehört. Dazu müssen wir uns immer wieder vor Augen führen, wie breit wir aufgestellt sind.
esanum: Gibt es denn Zweifel daran?
Kälble: Im Moment sind 501 Studien im DGU-Studienregister aufgelistet, davon sind ca. 350 onkologischer Natur. Ganz wenige befassen sich wissenschaftlich mit gutartigen Erkrankungen. Und damit können wir ganz wichtige wissenschaftliche Teile unseres Faches verlieren. Nierensteine zum Beispiel gehören zu den zehn häufigsten stationären Behandlungsfällen. Trotzdem gibt es von den 501 Studien nur 16, die sich mit Steinen befassen – und nur 3 mit Nierentransplantationen. Das mag ökonomische Gründe haben. Aber viele Urologen denken auch, wenn sie sich mit Randgebieten beschäftigen, haben sie schlechtere Karriere-Chancen.
Hinzu kommt: wenn ich mich reduziere auf einen Arzt, der nur noch ein Organ behandelt, habe ich in der Klinik berufspolitisch keine Stimme. Wenn ich aber so breit aufgestellt bleibe, habe ich eine entsprechende Stimme – und wir bleiben attraktiv für den Nachwuchs. 75 Prozent der Medizinstudenten sagten 2014 in einer Umfrage, es sei ihnen ganz wichtig, dass sie eine breite Palette von Krankheiten behandeln. Parallel läuft eine Öffentlichkeitskampagne: FFF, für alle, für jeden für uns – die Urologie. Auf der Website werden sämtliche urologischen Erkrankungen für Laien verständlich erklärt, es werden Urologen in der Nähe genannt. Die prominenten Gesichter der Kampagne sind die Handball-Nationalspieler Uli und Michael Roth, die beide rechtzeitig an einem Prostatakarzinom behandelt worden sind – und mit guter Lebensqualität leben. Die beiden werden auch auf dem Kongress auftreten. So dass eine Message vom Kongress auch ist: Sorgen wir dafür, dass unsere Patienten rechtzeitig zum Arzt gehen. Dann können wir fast alle Erkrankungen heilen oder zumindest lindern.
esanum: Welche Kongress-Themen liegen Ihnen außerdem besonders am Herzen?
Kälble: Onkologie ist der größte Schwerpunkt. 25 Prozent aller Tumoren sitzen im Urogenitaltrakt. Ein großer Schwerpunkt wird eine Podiumsdiskussion mit Vertretern der Kassen sein zum Thema PSA-Screening. Uns wird ja vorgeworfen, der PSA-Wert dient nur dazu, unnötig viele Karzinome zu diagnostizieren. Dazu wird von der AOK Baden-Württemberg die leitende Ärztin, eine habilitierte Gynäkologin, den PSA-Wert aus Sicht der Kassen darstellen. Als Neuerung auf dem Kongress haben wir Cross-Fire-Sitzungen. Dabei stellt ein Urologe ein Thema aus seiner Sicht dar und ein anderer hält dagegen. Zum Beispiel Varikozele bei Jugendlichen – OP oder nicht? Oder: Re-Biopsie im Rahmen der aktiven Überwachung – bei pathologischem MRT oder immer? Oder: mikroskopisch Blut im Urin – immer abklären oder nur bei Risikoprofil? Blasenkarzinom – mit dem Roboter operieren oder offen?
esanum: Was wird noch spannend?
Kälble: Antibiotika-Richtlinien und Hygiene – die Resistenzen durch unnötige Antibiotika-Gaben sind ja ein Megathema. Ein großes Thema wird auch ein State of the Art bei Inkontinenz und Beckenboden-Chirurgie der Frau sein. Auf eine Neuigkeit freue ich mich besonders: Semi-life-OP-Übertragungen. Wir haben Operateure gebeten, zu ihren Spezialgebieten OP-Sequenzen zu sammeln, auf dem Kongress zu zeigen und dann mit dem Publikum zu diskutieren. Dann gibt es einen Schwerpunkt zur Kinderurologie. Wo geht der Siebzehnjährige mit einer Penisfehlbildung hin? Der Urologe für Erwachsene kennt sich nicht immer damit aus. Ganz neu für uns ist die Flüchtlings-Problematik. Wir sehen mittlerweile Erkrankungen – auch Fehlbildungen - die man in Deutschland nicht mehr kannte. Und Frauen, die beschnitten sind, mit fürchterlichen Folgen. Die meisten von uns haben so etwas noch nie gesehen.
esanum: Stichwort HPV-Impfungen für Mädchen und Jungen – wo stehen wir?
Kälble: Da ist Bewegung drin. Die Datenlage zeigt klar, dass Jungen genau wie Mädchen geimpft werden sollen. Die DGU hat einen Flyer für Jungen herausgegeben, auf dem die typischen Fragen zum Penis, zum Samenerguss erklärt werden, und auch das Thema HPV angesprochen wird. Wir sind überzeugt, dass es bald eine Stiko-Empfehlung zur HPV-Impfung geben wird.
esanum: 90 Prozent der Prostatakarzinome können geheilt werden, allerdings nur, wenn sie noch nicht metastasiert sind. Warum bezahlen Kassen die sehr sinnvolle PSA-Bestimmung im Rahmen der Vorsorge eigentlich nicht?
Kälble: Das ist ein ganz heißes Eisen. Es gibt zwei große Studien weltweit dazu. In der europäischen Studie kam klar heraus, dass man durch das PSA-Screening Leben rettet. Bei der amerikanischen Studie kam heraus, es macht keinen Unterschied. Aber eine Nachfolge-Publikation hat gezeigt, das letztere ganz schlecht gemacht war. Um eine Übertherapie und auch ein Übersehen von Karzinomen zu vermeiden, empfiehlt die DGU, dass man bei Männern, wenn sie das wünschen, ab 45, bei einem Risiko in der Familie ab 40 ein Baseline-PSA macht. Und wenn der PSA-Wert 0,X beträgt, sagt man je nach Alter des Patienten: Kontrolle in zwei bis fünf Jahren. Ist er bei einem 45jährigen aber bereits bei z. B. 2,5, dann muss dieser jährlich kommen. Zu den Base-Line-basierten PSA-Bestimmungen läuft derzeit eine Studie in der Uniklinik Düsseldorf. PSA ist nach wie vor der beste Tumormarker, aber er ist nicht spezifisch und man muss mit diesem Wert umgehen können. Eine gutartige Prostatavergrößerung macht z. B. auch PSA. Und es ist ein Riesenunterschied, ob ich einen PSA-Wert von 5 bei einer hundert Gramm-Prostata habe oder bei einer sehr kleinen Prostata. Die Selbsthilfegruppe BPS, also gut informierte Patienten, hat verständlicherweise Interesse, dass künftig der PSA-Wert von gesetzlichen Krankenkassen bezahlt wird. Es läuft derzeit von Seiten der DGU eine Cochrane-Analyse mit der Frage, ob die Datenlage das jetzt schon hergibt. Ich persönlich glaube, dass es nicht mehr lang dauern wird, bis man den entsprechenden Antrag stellen kann.
esanum: Mit Dr. Christof Veit, Leiter des (IQTIG), wird auf dem Kongress auch gesundheitspolitische Prominenz vertreten sein. Worum geht es besonders auf diesem Gebiet?
Kälble: Da geht es um Qualitätsmessung im Gesundheitswesen. Z.B. wird uns vorgeworfen, dass wir zu viele Prostatakarzinome operieren. So wird überlegt, welche Qualitätskontrollen man machen kann, um festzustellen, ob die Urologen die Patienten auch wirklich partizipativ aufklären. Wir sind sehr daran interessiert.