Seit 2017 werden Videosprechstunden als Kassenleistung vergütet. In der Hauptstadtregion gehört die Behandlung am Bildschirm aber noch längst nicht zum Standard.
Es ist kurz nach Mittag, im Centrum für Gesundheit (CfG) der AOK Nordost in Berlin-Wedding rückt Alexander Kugelstadt seinen Stuhl vor den Bildschirm. Er ist mit seinem Patienten zur Videosprechstunde verabredet. "Hallo, wie geht es Ihnen heute?", begrüßt der Psychosomatiker den Mann auf dem Bildschirm. "Hatten Sie Probleme mit Ihren Angstattacken?"
Im Institut für psychogene Erkrankungen im CfG müssen Patienten seit 2016 zur Therapiestunde nicht mehr zwingend in die Praxis kommen. 19 Ärzte bieten inzwischen Videosprechstunden an. "Kontinuität ist bei der psychotherapeutischen Behandlung sehr wichtig", sagt Kugelstadt. "Mit den Videosprechstunden können Behandlungen in der geplanten Regelmäßigkeit fortgesetzt werden - egal, ob der Patient im Auslandssemester, in Brandenburg oder gerade auf Dienstreise ist."
Der Mann auf dem Bildschirm ist heute kein echter Patient. Das Institut möchte seine Patienten und deren Probleme nicht in der Öffentlichkeit präsentieren. Er leide unter Panikattacken, sagt er. Die Angst tauche immer dann auf, wenn er sich beruflich überfordert fühle, so wie gerade auf einer Dienstreise. "Hier ist die Videosprechstunde besonders dienlich, da wir auch dann miteinander sprechen können, wenn das Problem des Patienten gerade emotional aktiviert und akut ist", sagt der 37-jährige Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.
Seit dem 1. April 2017 dürfen Ärzte Videosprechstunden abrechnen. Dafür bekommen sie neben der Gesprächspauschale einen Technikzuschlag von 4,21 Euro. Jeder Arzt darf pro Quartal 50 Videosprechstunden abrechnen. Zusätzlich erhalten Ärzte einen Förderzuschlag von 800 Euro jährlich. Seit dem Frühjahr 2018 dürfen Ärzte sogar Patienten behandeln, denen sie noch nie vorher begegnet sind. Die Bundesärztekammer hatte das sogenannte Fernbehandlungsverbot gekippt. Nach dem Verbot konnten Ärzte den Kontakt über Telefon oder Video nur dann abrechnen, wenn der Patient auch einmal persönlich in der Praxis war.
Inzwischen haben viele Länder die Neuregelung der Bundeskammer übernommen. Darunter auch Berlin. Im Nachbarland Brandenburg, wo der Ärztemangel in Regionen wie dem Süden oder an der deutsch-polnischen Grenze besonders hoch ist, hat die Landesärztekammer der Änderung bislang nicht zugestimmt. Die Berufsordnung biete schon bisher weitreichende Möglichkeiten der Fernbehandlung, heißt es. Behandlungen ausschließlich über die Ferne seien ein unkalkulierbares Risiko für Patient und Arzt. Die bisherige Regelung verhindere Fehlbeurteilungen und schütze Arzt und Patient gleichermaßen, teilte die Kammer auf Nachfrage mit.
Für Felix Schirmann ist die Sorge der Kammer unbegründet. Er ist Sprecher bei Patientus, einem Anbieter von Videosprechstunden mit Sitz in Berlin. Die Software sei sicher Ende-zu-Ende-verschlüsselt und funktioniere ohne zwischengeschalteten Server. Damit sei das System sicherer als viele andere Videodienste. Arzt und Patient bräuchten nur Laptop oder Handy, eine gute Internetverbindung, Browser und eine Webcam. Über einen Code, den der Patient von seinem Arzt bekommt, kann er sich ins virtuelle Wartezimmer einwählen. Nach der Nutzung verfällt der Code wieder. Seit dem Start der Software 2013 sei die Nachfrage deutlich gestiegen.
Trotz sicherer Verbindung gehört die Videosprechstunde in der Hauptstadtregion aber längst nicht zum Standard. Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin rechnen bisher nur zwei Praxen Telemedizin-Behandlungen ab. Im Flächenland Brandenburg gab es bis Ende 2018 noch keine einzige Abrechnung, sagt Christian Wehry, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg (KVBB) der Deutschen Presse-Agentur.
Doch warum nutzen Ärzte die Technik nicht? Eine, die es gerne ausprobieren würde, ist Antonia Stahl. Die Allgemeinmedizinerin betreibt eine Gemeinschaftspraxis in Falkensee (Landkreis Havelland). Anbieten könne sie die Videosprechstunden derzeit nicht, obwohl sie in der Telemedizin die Zukunft sehe. "Es ist doch ein relativ großer Aufwand." Datensicherheit und verschiedene, nicht-kompatible Systeme, dadurch lasse sich die Videosprechstunde nicht "so nebenbei" aufbauen, sagt Stahl.
Von befreundeten Ärzten kenne sie ähnliche Bedenken. Vor allem aber sei die Behandlung am Monitor kostenintensiv und die Vergütung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) zu gering. Allein die Software koste sie 60 bis 150 Euro pro Monat. Dabei hat die Hausärztin bereits einige Patienten, die sich Videosprechstunden wünschen würden.
Brandenburgs Gesundheitsministerin Susanna Karawanskij (Linke) sieht in der Digitalisierung eine große Chance für die gesundheitliche Versorgung - besonders in einem Flächenland wie Brandenburg. "Telemedizin kann den Ärztemangel zwar nicht alleine lösen, aber abmildern", sagte sie auf Nachfrage. Die Entscheidung des Deutschen Ärztetages, das Fernbehandlungsverbot zu lockern, sei eine zukunftsorientierte Nachricht für alle Patienten.
Psychosomatiker Kugelstadt bietet seinen Patienten immer häufiger Videosprechstunden an. Allerdings nutzt er die Technik nicht ausschließlich. "In der Psychotherapie geht unheimlich viel über den persönlichen Kontakt, die Beziehung zwischen Arzt und Patient. Darauf kann die Videosprechstunde nur aufbauen." Seit Beginn der Videosprechstunden 2016 wurden in dem Berliner Institut bis Ende 2018 über 200 Mal Patienten über Videoschaltungen behandelt. Künftig will die Einrichtung das Angebot auf weitere Bereiche ausbauen.