Hände und Füße, Brüste und Köpfe liegen auf dem Seziertisch. Einige sind blass, manche haben starke Rötungen, andere sind weiß. Gipsweiß. Die Körperteile hat Navena Widulin angefertigt, aus Gips und Wachs, es sind Entwürfe und fertige Moulagen. Moulagen – Modelle aus Wachs – waren bis Mitte des 20. Jahrhunderts das wichtigste Lehrmittel in der Dermatologie. Am Patienten angefertigt bildeten sie krankhafte Körperregionen täuschend echt ab. Heute stehen die meisten im Museum – und werden wieder wichtiger für Lehre und Medizin.
Vor zehn Jahren konnte Widulin nichts anfangen mit Moulagen. Als medizinische Präparatorin war es ihr Job, Leichen zu sezieren. Dann erzählte ihr der Direktor des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité (BMM) von den Wachsfiguren und steckte sie mit seiner Begeisterung an. Bis sie das Moulieren lernte.
“Das ist der Fuß einer Freundin”, sagt die 42-Jährige und zeigt auf eine schwarze Platte. “Sie trägt gerne hochhackige Schuhe und hat einen ausgeprägten Hallux valgus.” Der Knochen unterhalb des zierlichen Zehs ist wie eine Beule nach außen ausgeprägt. Die Nägel sind pink lackiert, so wie sie ihre Freundin gerne trägt. Die Moulage wurde ausgestellt – in einer Schau zur Geschichte des Schuhs.
Moulagen sind wieder nachgefragt, nachdem sie mit der Verbreitung der Farbfotografie an Bedeutung verloren hatten, wie Widulin erzählt. Die Moulagen, die die Präparatorin herstellt, sollen Teil einer Lehrsammlung für Studenten werden. Neben operativ veränderten Körperteilen mouliert Widulin dafür auch rechtsmedizinische Fälle: etwa den Oberkörper einer Frau, in dem ein Messer unterhalb des Brustbeins steckt. Widulin hat dafür mit den Pathologen an der Leiche besprochen, worauf es beim Befund ankam.
Die alten, nach 1850 entstandenen Moulagen zeigen vor allem Hautkrankheiten. Weil es für die im Unterricht besprochenen Erkrankungen nicht immer Vorzeige-Patienten gab, konnten die Dozenten den Studenten die Leiden an solchen Modellen zeigen. Im Berliner Museum sind Augenkrankheiten zu sehen: zum Beispiel ein Trachom, bei dem die Lidpartie stark vernarbt und gerötet ist. Die insgesamt 17 Moulagensammlungen in Deutschland bilden aber von Pocken über nässende Ekzeme bis zu Neurodermitis vielfältige Krankheitsbilder ab.
Viele historische Objekte sind hochaktuell: Sie zeigen Ausprägungen von Infektionskrankheiten, die überwunden geglaubt waren und nun wieder auf dem Vormarsch sind. Wie Syphilis, die dem Robert Koch-Institut zufolge seit 2001 wieder häufiger in Deutschland diagnostiziert wird. Zur Sammlung der Bonner Universitätshautklinik gehören viele Moulagen, die Hautveränderungen durch Syphilis zeigen. “Heutzutage gibt es Syphilis nicht in so krassen Ausprägungen”, sagt die Kuratorin der Sammlung, Béatrice Bieber. Die Krankheit im Ausprägungsstadium zu kennen, sei aber enorm wichtig.
Anhand von Moulagen könnten Krankheiten losgelöst vom Patienten erklärt werden, sagt Bieber. “Die Menschen begreifen, was für ein Schicksal dahinter steht. Denn Hautkrankheiten stigmatisieren, auch heute noch.” Anders als in der Berliner Sammlung liegen in Bonn Patientenakten zu vielen der rund 1000 Moulagen vor. “Eine Patientengeschichte berührt immer”, sagt Bieber. “Wenn aber 100 Jahre dazwischen liegen, hat sie noch einen anderen Reiz.”
Für die Wachsfiguren interessieren sich laut Widulin nicht nur Mediziner. Auch Kulturwissenschaftler und Kunststudenten fragen nach ihnen. Widulin tauscht sich für ihre Arbeit mit Make-up-Artists aus. “Die fragen mich, wie Totenflecke oder eine Moorleiche aussehen. Ich frage nach der Technik. So bin ich auch auf das spezielle Silikon gekommen, mit dem ich die Hautabformungen mache.”
Den Silikonabdruck stabilisiert Widulin anschließend mit Gips, dann gießt sie die Silikonform mit heißem Wachs aus. Je nach Grundton der Haut mischt sie Ölfarbe in den Wachs. “Viele sagen: ‘Du bist ein Künstler!’ Ich fühle mich wie ein Handwerker”, sagt Widulin. Wenn die Form fertig ist, muss sie noch hauchdünn mit Lasurfarben bemalt werden, von hell nach dunkel, so realitätsnah wie möglich. “Moulagen sind im Dazwischen. Sie sehen echt aus, sind sie aber nicht.”
Text und Foto: dpa /fw