Nicht lebensnotwendige OPs werden verschoben, Früherkennungsprogramme gekürzt. Vor allem aber scheuen PatientInnen den Gang zu ÄrztInnen- aus Angst vor einer Corona-Ansteckung. Manche Krebsdiagnose könnte später gestellt werden. Werden mehr Menschen an Krebs sterben?
WissenschaftlerInnen und ÄrztInnen warnen in der Corona-Krise vor einer "Bugwelle an zu spät diagnostizierten Krebsfällen". Bislang mussten Krebserkrankte im Regelfall keine bedrohlichen Versorgungsengpässe befürchten, doch Einschränkungen durch die Krisensituation seien spürbar, teilten das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ), die Deutsche Krebshilfe und die Deutsche Krebsgesellschaft mit. Ob die Zahl der Krebsfälle dadurch steigen könnte, ließen die Fachleute zunächst offen.
Die Krebstherapie sei grundsätzlich auch jetzt gesichert, sagte Gerd Nettekoven, Vorstandschef der Stiftung Deutsche Krebshilfe. "Doch wir erkennen inzwischen auch, dass das Versorgungssystem spürbar gestresst ist und die Einschränkungen aufgrund der Krisensituation negative Auswirkungen für Krebspatienten haben können."
Klinikbetten werden derzeit frei gehalten - für Corona-Erkrankte, die aufgrund der Epidemie-Entwicklung nicht in der zunächst befürchteten hohen Zahl kamen. Früherkennungsprogramme wurden zusammengestrichen, ebenso manche Spezialuntersuchungen bei Krebs. Nicht lebensnotwendige Operationen wurden verschoben.
"Wir sind bewusst ein bisschen auf die Bremse getreten bei Terminen, die nicht dringlich sind", sagt der Krebsmediziner am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), Michael von Bergwelt. "Wenn eine Patientin vor fünf Jahren Brustkrebs hatte, macht es keinen Unterschied, ob sie einen Monat früher oder später zur Kontrolle kommt." Klinikbesuche in nicht dringenden Fällen sollten verringert, aber auch die Kliniken auf den möglichen Ansturm von Corona-PatientInnen vorbereitet werden.
Ob es im Zuge der Corona-Krise mehr Krebstote geben werde, sei noch nicht absehbar, sagte Bergwelt. "In einem Szenario, in dem das Gesundheitssystem über einen längeren Zeitraum überfordert ist, muss es so sein. Meine Hoffnung wäre aber auf Basis der Erfahrung der vergangenen Wochen, dass das großenteils vermeidbar ist."
Derzeit würden die Leitlinien für die Behandlung bestimmter onkologischer PatientInnen ergänzt. "Man muss auf dieser Basis sehr individuell beraten: Wie ausgeprägt ist der Wunsch, jetzt mit der Behandlung voranzuschreiten, wie groß ist die Angst, jetzt ins Krankenhaus zu gehen?" Eine akute Leukämie etwa müsse sofort behandelt werden. Dabei werde stets "auf Sicht" gefahren.
"Ein Aussetzen von Früherkennungs- und Abklärungsmaßnahmen ist nur über einen kurzen Zeitraum tolerierbar, sonst werden Tumoren möglicherweise erst in einem fortgeschrittenen Stadium mit dann schlechterer Prognose erkannt", betont Michael Baumann, Vorstandschef des Deutschen Krebsforschungszentrums. "Wir beobachten derzeit, dass Menschen Symptome nicht ärztlich abklären lassen."
In Praxen und Kliniken bleiben PatientInnen weg: Angst vor Ansteckung. Nicht zuletzt sind Krebskranke mit geschwächtem Immunsystem besonders gefährdet. "Wir sehen deutlich weniger Krebspatienten", sagt Bergwelt. "Uns treibt durchaus etwas die Sorge um, dass manche Patienten aus Sorge vor Infektion gar nicht mehr zum Arzt oder gar nicht ins Krankenhaus kommen", warnt auch der Ärztliche Direktor am LMU-Klinikum und Vorsitzende der Universitätsmedizin Bayern, Karl-Walter Jauch. Diese Ängste müssten den Menschen genommen werden.
Schon vor Corona rechneten die Fachleute mit einem Anstieg bei Krebs. Laut Prognose der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird sich die Zahl bis 2040 fast verdoppeln. Laut dem Weltkrebsreport der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) erkrankten 2018 weltweit 18,1 Millionen Menschen an Krebs, 9,6 Millionen starben. 2040 dürften demnach 29 bis 37 Millionen Menschen neu erkranken. Auch Baumann ging Anfang Februar von einer solchen Entwicklung aus. Gründe seien die wachsende und älter werdende Weltbevölkerung, aber auch "Lebensstilfaktoren".