Tatsache ist: Der von den Krankenkassen registrierte Krankenstand ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Laut Statistischem Bundesamt betrug er 2021 noch 11,1 Tage, im vergangenen Jahr bereits 15,1 Tage. In diesem Jahr wurde die Zahl der durchschnittlichen AU-Tage je Kassenmitglied bereits zum Frühherbst erreicht. Auffällig ist jedenfalls, dass Deutschland im internationalen Vergleich einen hohen Krankenstand aufweist, höher jedenfalls als in Spanien, der Schweiz und Frankreich und deutlich höher als in asiatischen Ländern, wo in Hongkong nur 16 Prozent laut Statista angaben, länger als fünf Tage krank gewesen zu sein; in Südkorea gaben 61 Prozent an, keinen Tag wegen Krankheit gefehlt zu haben. Solche Vergleiche befeuern die Debatte, wie leicht es möglicherweise im deutschen System ist, vom Arzt eine AU-Bescheinigung zu bekommen.
Die Gründe können aber auch anderer Natur sein: Diskutiert wird, dass die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen eine wesentliche Ursache der steigenden Zahl langdauernder AU sein kann. Ferner sind nach Ende der Corona-bedingten Kontaktbeschränkungen stark steigende Zahlen von Atemwegsinfekten beobachtet worden. Eine weitere Erklärung ist, dass viele Patienten nach der Pandemie sorgfältiger auf Krankheitssymptome achten. Möglicherweise spielt auch ein Artefakt eine wesentliche Rolle: Aufgrund der eAU mit automatischer Meldung einer Krankschreibung an die Krankenkasse wird das Ausmaß der Arbeitsunfähigkeit seit Oktober 2021 wesentlich vollständiger erfasst als zuvor, wo Versicherte einen Durchschlag an die Krankenkassen weiterleiten mussten. Diese Erklärung wird sowohl von Krankenkassen als auch vom wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen und den Ökonomen des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim als plausibel angesehen. Die Wirtschaftsforscher halten dies sogar für die wichtigste Einflussgröße.
Vor diesem Hintergrund fordern auch große Krankenkassen wie AOK und Techniker Krankenkasse die Beibehaltung der telefonischen Krankschreibungen. Die Vorsitzende des Hausärzteverbandes, Professor Nicola Buhlinger-Göpfarth sieht in ihr eine medizinisch sinnvolle Maßnahme und eines der wirksamsten und erfolgreichsten Instrumente zur Entbürokratisierung des Praxisbetriebs. Sie jetzt abzuschaffen, werde in den nächsten Monaten angesichts zahlreicher Infektionskrankheiten die Praxen überlasten und damit die Patientenversorgung gefährden.
Nach Daten der Krankenkassen stößt die elektronische Patientenakte bei Versicherten offenbar auf eine hohe Akzeptanz. Laut einer Umfrage der Deutschen Presseagentur bei großen Krankenkassen hat nur ein geringer Teil der Versicherten bislang von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Widerspruch gegen die automatische Ablage der ePA einzulegen. Die AOK hatte bis Ende September insgesamt 27 Millionen Mitglieder angeschrieben und damit auch über die Widerspruchsmöglichkeit informiert; davon machte nur etwa ein Prozent Gebrauch. Bei der TK mit 11,7 Millionen Versicherten liegt die Widerspruchsquote im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Die faktische Lage kurz vor flächendeckender Einführung der ePA ist damit wesentlich günstiger als die Prognose der Bundesregierung, die mit einer 20-Prozent-Opt-out-Rate gerechnet hatte.
Das hartnäckige Festhalten insbesondere von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und die mangelnde Bereitschaft, staatlich veranlasste Sozialleistungen wie das Bürgergeld und der Anspruch von Flüchtlingen auf Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen sind eine wesentliche Ursache dafür, dass Anfang kommenden Jahres die Beitragssätze in der Kranken- und Pflegeversicherung steigen müssen. So ist seit langem bekannt, dass die Beiträge, die der Bund für die Bezieher von Bürgergeld (früher Hartz IV), eine Unterdeckung von zehn Milliarden Euro aufweist. Der ursprüngliche Plan der Ampel, den Zuschuss des Bundes auf eine kostendeckende Höhe zu korrigieren, ist einstweilen ad acta gelegt und aufgrund der Schuldenbremse unmöglich geworden. Die Ampel ist allerdings auch nicht bereit, von ihr beschlossene Sozialleistungen zu kürzen. Sie nicht vollständig mit Steuern zu finanzieren, ist ein Systembruch zu Lasten der Beitragszahler. Gleiches gilt für rund 5,9 Milliarden Euro, die der Bund als Corona-Hilfen aus dem Budget der Pflegekassen entnommen hat. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der CDU/CSU-Fraktion hat der Bund aufgrund der angespannten Finanzlage seines Haushalts nicht die Absicht, den Pflegekassen diese Entnahme zu erstatten.
Neben der Notfallreform mahnen der Verband der Ersatzkassen, die Björn Steiger Stiftung und der Spitzenverband der Fachärzte auch dringend eine Reform des Rettungsdienstes an. Die anstehende Notfallversorgung biete die Chance, auch die Notfallrettung neu aufzustellen, so die vdek-Vorsitzende Ulrike Elsner. Man brauche dafür bundeseinheitliche Vorgaben für Qualitätsparameter, damit dies der grundgesetzlichen Vorgabe einheitlicher Lebensverhältnisse genüge. Vdek und Björn Steiger Stiftung machen darauf aufmerksam, dass in der Regie der Länder unterschiedliche regional Qualitätsstandards erreicht werden. Der vdek kritisiert, dass die Ausgaben für den Rettungsdienst zwischen 2012 und 2022 von 1,5 auf 4 Milliarden Euro gestiegen sind – ein Plus von 63 Prozent. Bereits 2014 hatte der Bundesrechnungshof die Ineffizienz des Rettungswesens kritisiert.
Eine Blaupause der Reform liegt seit 2018 mit dem damaligen Gutachten des Sachverständigenrates vor. Das BMG hat dies aufgegriffen und will wesentliche Teile übernehmen: die Integration der Notfallrettung als eigenes Leistungskapitel im SGB V mit Regeln für eine Finanzierung, basierend auf Verträgen mit den Krankenkassen, sowie die Einführung bundeseinheitlich geltender Qualitäts- und Strukturkriterien. Das tangiert die Hoheit der Länder, die sich dagegen wehren. Ähnliche Widerstände wie bei der Klinikreform sind zu erwarten – dabei wird die Zeit in der verbleibenden Legislaturperiode knapp.
Die Reform der Notfallversorgung durch niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser ist hingegen weiter fortgeschritten und wird aktuell als Gesetzentwurf im Gesundheitsausschuss des Bundestages diskutiert. Bei der öffentlichen Anhörung des Ausschusses mahnte der Spitzenverband der Fachärzte (SpiFa) die Dringlichkeit der Reform an. Dabei müsse unbedingt realisiert werden, dass die Ersteinschätzung der Dringlichkeit bei einem Integrierten Notfallzentrum (INZ) durch den gemeinsamen Tresen von Vertragsärzten oder von vom Krankenhaus unabhängigen Ärzten vorgenommen werden muss. Dringend notwendig sei es, so SpiFa-Vorsitzender Dirk Heinrich, „jene Trampelpfade konsequent zu beseitigen, die Krankenhausträger zuweilen zur Befüllung ihrer Betten nutzen“. Bereits 2013 sei in Studien zu ambulant-sensitiven Krankenhausfällen errechnet worden, dass auf diese Weise ein Erlösvolumen von 4,8 Milliarden Euro erzielt worden sei. Inzwischen dürften dies mindestens zehn Milliarden Euro sein