Eine der größten Herausforderungen der klinischen Versorgung in Deutschland ist die Einführung von Kriterien, welche die Qualität messbar machen und nicht nur die Quantität belohnen. Das Bundesgesundheitsministerium hat nicht zuletzt deshalb eine Qualitätsoffensive gestartet, die unter anderem die Schaffung eines neuen Qualitätsinstituts vorsieht.
Vorreiter bei einer qualitätsorientierten Versorgung sind die 951 zertifizierten Zentren der onkologischen Versorgung in Deutschland, die erfolgreicher bei der Behandlung von Krebserkrankungen agieren als nicht-zertifizierte.
“Zertifizierte Zentren müssen bei der Behandlung von Krebs nachweisbare Erfahrung vorweisen”, nennt Dr. Simone Wesselmann, Leiterin des Bereichs Zertifizierung der Deutschen Krebsgesellschaft, im esanum-Interview einen der Gründe. Circa 150.000 Patienten suchten 2013 ein zertifiziertes Zentrum auf.
esanum: Die Überlebensrate von Patientinnen, die in einem zertifizierten Brustkrebszentrum behandelt wurden, liegt höher als die von Patientinnen, die außerhalb eines solchen Zentrums behandelt wurden. Was sind die Gründe dafür?
Wesselmann: Die Überlebensrate von Patientinnen, die in von uns zertifizierten Brustkrebszentren behandelt wurden, liegt nach vier Jahren bei rund 90 Prozent. Bei Behandlungen außerhalb zertifizierter Zentren sind es dagegen nur 83 Prozent. Daneben ist es jedoch besonders wichtig, dass überprüft wird, ob die Partner in den zertifizierten Zentren auch aktuell auf Basis der Leitlinien behandeln und ob den Patienten genau die Behandlung angeboten wird, die medizinisch sinnvoll ist. Zertifizierte Zentren bieten aufgrund des qualitätsorientierten Ansatzes ein hohes Maß an Gewährleistung, dass alle Spezialisten in die Behandlung einbezogen werden, die notwendig sind, um alle Bereiche und alle Phasen einer Erkrankung zu berücksichtigen. Für den Patienten ist das Ergebnis eine bestmögliche Therapie und Betreuung.
esanum: Inwieweit unterschiedet sich die Therapie eines zertifizierten Zentrums von einem nicht-zertifizierten?
Wesselmann: Die Therapie mag in vielen Fällen die gleiche sein. Aber: Ein zertifiziertes Zentrum bietet die Sicherheit, dass es mit einer Erkrankung umfassende Erfahrung hat und auf ein Netzwerk an relevanten Fachärzten und Strukturen zurückgreifen kann, die den gesamten Krankheitsverlauf begleiten. Die Kompetenzen reichen – abhängig von der Krebsart – von Onkologen, Radiologen, Chirurgen über Mitarbeiter der Pflege und Psychologen. In einem nicht-zertifizierten Zentrum sind sicherlich auch hervorragende Ärzte tätig. Die zertifizierten Netzwerke stellen sich allerdings jedes Jahr einem Audit, legen ihre Ergebnisse dar und suchen stetig nach Möglichkeiten der Verbesserung. Behandlungsqualität freiwillig sichtbar zu machen ist keineswegs selbstverständlich und zeichnet die Netzwerke aus. Das sollten Patienten bei ihrer Arztwahl bedenken. Das Zertifikat hat sich als Gütesiegel und eine Orientierungshilfe für Patienten etabliert.
esanum: Das klingt nach einem Plädoyer für große Unikliniken, die alle Fachbereiche unter einem Dach vereinen.
Wesselmann: Ganz und gar nicht. Es gibt hervorragende Zentren, die keiner Uniklinik angehören. Entscheidend ist vielmehr das Netzwerk. Aus Sicht des Patienten soll die gesamte Versorgungskette abgebildet werden. Das gilt für die ambulante und stationäre Behandlung genauso wie für medizinische, pflegerische oder psychologische Leistungen. Zu einem zertifizierten Netzwerk gehört immer mindestens eine Klinik und vor allem auch im ambulanten Bereich tätige Fachärzte, die meisten der erste Anlaufpunkt für einen Patienten mit Krebsverdacht sind. Häufig übernehmen diese auch die Nachbetreuung oder Therapie, die vor allem im ambulanten Bereich ausgeführt werden wie zum Beispiel die Gabe von Chemotherapie.
esanum: Die Qualitätssicherung der onkologischen Versorgung folgt einem Drei-Stufen-Modell. Wie läuft die Zertifizierung ab?
Wesselmann: Das Zertifizierungssystem folgt einer klassischen Dreiteilung von Legislative, Exekutive und Judikative. Tumorspezifisch gibt es eine Zertifizierungskommission, die als Legislative die Anforderungen an die Zentren auf Basis der evidenzbasierten Leitlinien erstellt, die in einem Erhebungsbogen zusammengefasst werden. Die Kommissionen sind Fach- und Berufsgruppenübergreifend besetzt.
Das Institut OnkoZert organisiert die Exekutive, also die Durchführung der Audit-Verfahren. Ein onkologisch tätiger Facharzt mit spezieller Weiterbildung führt als sogenannter Fachexperte das Audit vor Ort durch. Er prüft, inwieweit die Anforderungen im Zentrum umgesetzt sind. Die Experten schreiben einen Audit-Bericht, den der Ausschuss für Zertifikaterteilung als Judikative erhält. Im Ausschuss sitzen drei erfahrene Fachexperten, die über die Zertifizierung entscheiden. Der Auditor selber gibt dabei nur eine Empfehlung zur Vergabe des Zertifikats. Diese Dreiteilung stellt die wichtige Transparenz und hohe Qualität sicher.
esanum: Wie beurteilen Sie allgemein die Krebsversorgung in Krankenhäusern in Deutschland?
Wesselmann: In Europa hat Deutschland eine federführende Rolle inne. Patienten können in den meisten Fällen sicher sein, dass sie eine sehr gute Behandlung erfahren – und das meist recht nah am Wohnort. Die Zertifizierung hilft vor allem bei der Orientierung für den Patienten und garantiert bestimmte Qualitätsstandards. Genau das ist die Richtung, die wir in der medizinischen Versorgung einschlagen müssen: Leistungen und Qualität einer Einrichtung müssen transparent überprüfbar sein. Dass das Ministerium und die Krankenkassen jetzt massiv Druck machen, um weg von der quantitätsorientieren hin zur qualitätsorientierten Versorgung zu gelangen, ist nur verständlich.