Schätzungen zufolge lebt eine halbe Million Sex- und Pornosüchtiger in Deutschland. Die Folgen sind teils gravierend - auch für Partner und Angehörige. Bald könnte sich für sie Entscheidendes ändern. Ein Betroffener erzählt.
Immer mal wieder morgens ist Max Schmidt froh, ein "normaler Mann" zu sein. So nennt er es, wenn er mit einer Erektion aufwacht. "Seit Ewigkeiten habe ich wieder eine Morgenlatte", sagt Schmidt. "Ich werde geil, wenn ich neben meiner Frau liege." Für den Münchner Mitte 40 ist das ein Erfolg.
Denn jahrelang hat Schmidt seine Lust vor allem mit Pornos gestillt, sich beim Zuschauen befriedigt. Die Filme waren einfach zu haben, unkompliziert und reizvoll. Mit der Zeit wurden sie zur Sucht. Sie (zer)störten sein Sexualleben und seine Beziehung. Heute muss er seine Ehe retten. "Ich habe mir damit lange mein Leben versaut", sagt er. In Wahrheit heißt Schmidt anders. Doch er will aufklären: Tausende andere, denen es so oder so ähnlich geht wie ihm.
"Das ist für mich das gleiche, wie wenn man Alkohol oder Nikotin verfällt", sagt Schmidt. "Aber ich habe die Folgen nicht erkannt." Bei Alkohol und Zigaretten denke man sofort an die Gesundheit, bei Spielsucht ans Geld, sagt er. "Aber an was denkt man bei Pornosucht?"
Heute sind er und seine Frau zur Paar- und Sexualtherapie bei der ärztlichen Psychotherapeutin Heike Melzer. "Es gibt Schätzungen von einer halben Million Sex- und Pornosüchtigen in Deutschland", sagt sie. Neun von zehn seien Männer. "Hinzu kommt eine ähnlich hohe Anzahl indirekt betroffener Partner und Familienangehöriger."
Für sie könnte sich bald etwas Entscheidendes ändern: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) will Ende Mai die internationale Klassifikation von Erkrankungen (ICD-11) verabschieden, in der zwanghafte sexuelle Störungen als Impulskontrollstörung aufgenommen sind. "Für die Betroffenen ist es dann einfacher, Therapeuten zu finden", erklärt Melzer. Und es sei einfacher, das Thema wissenschaftlich zu erforschen.
Zu zwanghaftem Sexualverhalten können Experten zufolge unter anderem übermäßiger Pornokonsum und Telefonsex zählen. Die Diagnose ist nach Definition der WHO dann angebracht, wenn Betroffene intensive, wiederkehrende Sexualimpulse über mindestens sechs Monate nicht kontrollieren können und dies ihr Familien- oder Arbeitsleben oder das Sozialverhalten beeinträchtigt. Eine moralische Missbilligung des Verhaltens allein reiche für die Einstufung nicht aus, betont die WHO in ihrer Definition explizit.
Angefangen hat es bei Schmidt früh: Immer schon habe er Probleme beim Sex gehabt, erzählt er. Doch eine Vorhautverengung sei erst recht spät erkannt worden, da war er schon erwachsen. In seiner ersten Ehe habe er immer öfter Pornos geschaut, je länger die Beziehung dauerte. Nachdem diese in die Brüche gegangen war und er wieder geheiratet hatte, sprach er das Thema mit seiner zweiten Frau offen an. "Es hat sie anfangs nicht gestört, dass ich Pornos gucke", sagt Schmidt. "Aber sie wusste nicht, wie sich das auswirkt."
Die Folgen beschreibt er mit drastischen Worten: "Ich habe Pornos geguckt und meine Frau links liegengelassen", sagt er. Und: "Nach 15 Jahren kann ich mich nun wieder selbstbefriedigen ohne Pornos." Er brauchte Pornos, um erregt zu werden. "Statt neue Sachen mit meiner Frau auszuprobieren, habe ich im Netz geschaut." Das führte auch zu unguten Vergleichen, weiß Schmidt heute: "Männer in Pornos sind besser bestückt, Frauen haben geilere Figuren."
Wachgerüttelt habe ihn seine Frau Anfang des Jahres, als sie ihm sagte: "Ich liebe dich nur noch als Freund, aber nicht mehr als Mann." Dass habe ihn so geschockt, dass er mit den Pornos aufhörte. Heute sagt Schmidt: "Ich habe eigentlich ein Schweineglück gehabt. Welche Frau macht das mit, wenn man sie für Jahre nicht anfasst."