Wir Mediziner haben ja bei unseren Therapien immer den Fokus auf patientenrelevante Endpunkte. Da reden wir über Lebensqualität, aber vor allem über Nebenwirkungen. Doch patientenzentrierte Betrachtung bedeutet weit mehr als auf Nebenwirkungen zu achten. Ein Aspekt, der in Deutschland derzeit noch am Rand steht, ist der Zusammenhang von Armut und Krankheit. Ein wirklich großes Thema, das man ausführlicher besprechen muss. Ich kann hier nur sagen: Etwa 40 % unserer Patienten haben bis zu 40 % finanzielle Einbußen durch die Erkrankung. Das nennen wir Financial Toxicity.
Ich will aber hier auf ein anderes relevantes Thema eingehen: die Time Toxicity. Das ist ein neuer Begriff, der in meinen Augen immer wichtiger wird. Gemeint ist die Zeit, die ein Mensch in eine Krankheit beziehungsweise Behandlung investieren muss. Das hat erheblichen Einfluss auf seine Lebensqualität. Wir reden ja einerseits über Lebenslänge und andererseits über Lebensinhalt. Ich meine, man will nicht nur dem Leben Jahre geben, sondern auch den Jahren Leben geben. Dieser Gedanke ist übertragbar auf alle Bereiche der Medizin. Ein Beispiel: wenn ich eine unnötige diagnostische Maßnahme mache, ein unnötiges CT oder MRT. Was heißt das? Man sieht hier zunächst die Kosten, die verursacht werden. Aber hinzu kommt eben die Time Toxicity. Das betrifft die Zeit, die die Patientin braucht, um von zu Hause zum CT zu kommen, die Wartezeit vor der Untersuchung, sowie die Zeit bis zur Auswertung und Befundbesprechung beim Arzt. Das hat natürlich eine großen Einfluss auf ihr Leben. Besonders wenn wir an eine palliative Situation denken, wenn die Zeit noch begrenzter ist, wo es um die drei, fünf oder sieben Monate Lebensverlängerung geht. Hier müssen wir die gesamten Wartezeiten für die diagnostischen oder therapeutischen Verfahren gedanklich abziehen. Was ich damit sagen möchte, ist, dass wir natürlich die Patientenperspektive immer reflektieren sollten und den zeitlichen Aufwand für die Patientin mit in die Diskussion einbeziehen müssen, um Therapieentscheidung auf Augen- und sogar auf Herzenshöhe zu treffen.
Wir reden hier über diagnostische, therapeutische und Nachsorgekonzepte, die häufig durchgeführt werden, ohne dass das Leben wirklich verlängert wird.
Diese Abwägung halte ich für extrem wichtig, auch damit wir im Zeitmanagement besser werden.
Insgesamt ist es entscheidend, Time Toxicity ernst zu nehmen und proaktive Maßnahmen zu ergreifen, um die negativen Auswirkungen auch auf Mitarbeiter und Organisationen zu minimieren, insbesondere in Zeiten begrenzter Ressourcen. Denn Zeitverschwendungen aufgrund falscher Indikationen zu Diagnostik und Therapie limitieren die Ressourcen für notwendige medizinische Prozeduren. Dazu gehören auch die Ressourcen für die Kommunikation mit den Patienten und den Mitarbeitern. Machen wir uns auf, diese “Zeitdiebe” in unseren Prozessen zu identifizieren und zu eliminieren! So können nicht nur die Ressourcen besser genutzt werden, sondern es kann auch die Qualität der Patientenversorgung verbessert und die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter erhöht werden.
Außerdem können wir die Wartezeit auch verbessern - indem wir im Wartebereich Aktivitäten ermöglichen. Wir haben das an der Charité im Rahmen des “Rosi-Projektes” bei den Chemo-Therapien bereits gemacht. Wenn eine Patientin dreißig bis fünfzig Wochen, manchmal sogar Jahre, Krebstherapien bekommt, müssen wir überlegen, die Rahmenbedingungen dieser Therapien zu verbessern. Heißt: Warum muss der Therapieraum eigentlich aussehen wie ein Krankenhaus? Warum machen wir ihn nicht zum Lebensraum? Warum können wir nicht einen Kinofilm zeigen, warum kann ich nicht dort eine Sprache lernen - also die Zeit mit guten Inhalten füllen. Es gibt so viele Möglichkeiten: Eine kleine Bibliothek anschließen, ein ausrangiertes Klavier hinstellen. Bilder an die Wand hängen und nicht nur Pharma-Werbung, wie ich es neulich in einem Wartebereich wieder gesehen habe. Da fehlt mir die Achtsamkeit, das ist lieblos. Richtig und menschlich wäre, die üblichen Freizeitaktivitäten, die Menschen eben sonst so machen, in das therapeutische oder diagnostische Umfeld zu integrieren. Das würde die Zeit sinnvoll füllen und die Time Toxicity deutlich reduzieren.
Es geht mir darum, auch das alles in unserem Gesundheitssystem zu betrachten, um die Zufriedenheit der Patienten zu verbessern. Das heißt, die limitierten Ressourcen des Gesundheitssystems noch einmal kritisch zu überdenken. Noch macht das System alles, was geht und was bezahlt wird. Daher ist die Frage nach der Time Toxicity ein gutes Instrument, diesen Dialog neu zu starten. Bei einer chronischen Erkrankung stellt sich die Frage: sehe ich die Patientin dreimal im Monat oder dreimal im Jahr? Darüber kann man durchaus sprechen. Die Frage ist: wie sicher ist das, was ist notwendig? Es kann nicht nach dem einfachen Schema gehen: grundsätzlich einmal im Quartal.
Kurz: Wir dürfen den Patienten die Zeit nicht bedenkenlos stehlen, sie eben nicht 50 Kilometer zum Pet CT schicken, wenn vielleicht auch ein CT genügen würde. Wir müssen nicht nur immer an die eigenen Zeitbudgets denken, sondern auch an die Lebenszeit der Patienten - im Verhältnis zu dem Nutzen, die sie von einer Diagnostik oder Therapie wirklich haben können.
Der erste Schritt ist, dass wir das Thema in die Diskussion einbringen, aber auch in die Wissenschaft. Das bedeutet, dass in Studien zu Nebenwirkungen nicht nur Blutarmut und Übelkeit gemessen werden, sondern auch die Zeit, die aufgewendet wird. Zeiteinbußen können relativ einfach dokumentiert werden. Der zweite Schritt ist, dass jeder sich überlegt, wie er sein Wartezimmer in einen Lebensbereich umbauen kann. Das dritte ist, die Patientin zu fragen, wie aufwändig es für sie ist, in die Klinik zukommen und wie belastbar sie überhaupt ist.
Ich sehe es wie William Shakespeare, der sagte: “Die Zeit ist ein Dieb, der uns alles stiehlt, was wir haben.”
Mehr von Prof. Sehouli im Podcast WeissBunt.