In meinen Augen wäre das durchaus vernünftig. Offene Fragen sind derzeit der Preis, sowie die Zulassung für alle Kinder in Deutschland. Bisher war die Prophylaxe nur zugelassen für Risikokinder. Das sind Frühgeborene, in erster Linie vor der 28. Woche, bzw. vor der 35. Woche geborene, sowie Kinder mit schweren Herzfehlern und Kinder, die sauerstoffpflichtig sind - sie alle sind bei RSV-Infektionen besonders gefährdet.
Nun wissen wir aber: das sind nur 20 Prozent der Kinder, die mit RSV-Infektionen im Krankenhaus landen und sauerstoffpflichtig werden. 10 Prozent sind Frühgeborene und 10 Prozent sind vorerkrankte Kinder. Das Gros der Kinder, also 80 Prozent, sind ursprünglich völlig gesunde Kinder. Schwere Verläufe können also jedes Kind ohne jegliche Vorerkrankung und ohne besonderes Risiko betreffen. Da nun aber beinahe jedes Kind in den ersten zwei, drei Lebensjahren eine RSV-Infektion durchmacht, wäre eine Prophylaxe tatsächlich für jedes Kind angezeigt.
Aber parallel dazu muss man bedenken, dass es auch andere Risikofaktoren gibt. Wer ein Neugeborenes zu Hause hat, sollte es - gerade in den Wintermonaten - vor Viren besonders schützen. Ich meine, es ist sinnvoll, das ältere Geschwister-Kind dann nicht unbedingt in den Kindergarten zu schicken. Von dort kann es täglich die Keime in die Familie mitbringen. Das klingt sicher unpopulär. Und es ist auch nicht für jede Familie umsetzbar. Aber wer sich das leisten kann, wer es organisieren kann, könnte auf diese Weise das Risiko für sein Neugeborenes sehr stark senken. Ich weiß, dass viele Großeltern mit den Hufen scharren, weil sie sich mehr um ihre Enkel im Kita-Alter kümmern wollen. Solche Möglichkeiten sollten angenommen werden. In dieser Hinsicht berate ich die Eltern meiner kleinen Patienten. Kinderbetreuung heißt in den ersten eineinhalb Jahren: Liebe geben und Infektionen fernhalten.
Als Kinderarzt sehe ich ja immer nur die Kinder, bei denen etwas schief gegangen ist. Von 15 Kindern sind in den Wintermonaten vielleicht fünf, sechs in der Kita, alle anderen haben Husten, Schnupfen, Fieber. Da muss man gut abwägen: Ist die Kita überhaupt eine echte Erleichterung, wenn die Eltern ständig doch zu Hause bleiben und umplanen müssen? Es ist hoher Stress, rund um die Krankheit alles neu zu organisieren. Großmütter, Tagesmütter oder Nannies sind oft auch eine gute Lösung.
Hinzu kommt: Kinder von bestimmten sozial benachteiligten Familien, wo geraucht wird, wo der Fernseher den ganzen Tag läuft, sind sicher besser im Kindergarten aufgehoben als zu Hause. Aber erst wenn Kinder miteinander spielen, wenn die gemeinschaftliche Interaktion wichtiger wird, profitieren auch alle anderen Kinder von der Kita. Dies beginnt im Alter von drei Jahren. Bis dahin ist es zu Hause für viele meistens sicherer. Ich plädiere dafür, diese Dinge individuell zu betrachten und nicht alle über einen Kamm zu scheren - und eben Neugeborene und Säuglinge besonders zu schützen, wenn möglich.
Eine RSV-Infektion ist für Säuglinge und Kleinkinder keine Kleinigkeit. Die Kinder trinken schlecht, sie husten stark, sie schlafen nicht gut. Wenn die Sauerstoffsättigung fällt, landen sie im Krankenhaus und müssen beatmet werden. Viele Therapien helfen nicht: Antibiotika greifen nicht, Inhalieren funktioniert nicht.
RSV-Viren kennen wir seit den 90er Jahren. Und das Problem geht erst seit etwa einem Jahr durch die Medien. Früher dachte man: Lass das Kind die Infektion ruhig durchmachen, dann bekommt es später keine Allergien. Da ist sicher etwas Wahres dran. Aber demgegenüber muss man sehen: wenn Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter zweimal eine Bronchiolitis durchmachen und eine familiäre Disposition für Asthma vorliegt, steigt das Risiko um das zehnfache, dass sie später selbst Asthma entwickeln. Ich beobachte in der Praxis, dass Säuglinge, die häufiger Infekte haben, später oft auch diejenigen sind, die schwere pulmonale Erkrankungen entwickeln. Ich warne daher sehr davor, RSV auf die leichte Schulter zu nehmen. Klar ist: Wenn die Kinder die RSV-Prophylaxe bekommen, ist ihr Risiko, eine Bronchitis mit allen ihren Folgen zu bekommen, deutlich reduziert.
Man muss allerdings bedenken, wie skeptisch viele Eltern gegenüber Impfungen sind. Das hat in der Corona-Zeit zugenommen. Diese werden möglicherweise von der neuen Impfung nicht sofort Gebrauch machen - selbst wenn sie demnächst für alle angeboten würde. Hier ist viel Aufklärung nötig. Und hier sehe ich mich als Kinderarzt auch besonders gefordert.
Die Antikörper, die jetzt zugelassen sind, sind lange bekannt. Man hat sie bislang nur Kindern mit Risikofaktoren - also den sehr Frühgeborenen - gegeben, weil sie sehr teuer waren. Der neue Antikörper ist nun viel günstiger und muss auch nicht mehr wie früher einmal im Monat gegeben werden, sondern nur einmal in der Saison. Er soll fünf Monate halten.
Aber bis sich eine Impfung für alle Kinder flächendeckend bemerkbar machen kann, wird es noch ziemlich lange dauern. Im Jahr werden in Deutschland rund 600:000 Kinder geboren. Und es müssten 70, 80 Prozent der Kohorte die Impfung annehmen, damit es einen gesamtgesellschaftlichen Effekt gibt. So weit sind wir aber noch lange nicht.
Dr. Karsten ist Facharzt für Kinderheilkunde und seit 1990 niedergelassen in einer pädiatrischen Gemeinschaftspraxis mit Dr. Evelyn Rugo und Dr. Matthias Wagner in Berlin-Wilmersdorf.