- Marie Auzanneau: "Alle gleich versichert - alle gleich behandelt?". Session: Benachteiligt mit Diabetes und durch Diabetes. DDG 2023.
Aufgrund des Gesundheitssystems in Deutschland gibt es fast niemanden, der nicht versichert ist. Rund 90% der Bevölkerung sind Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung, während knapp 10% privat versichert sind. Dies bezieht sich nicht nur auf Erwachsene, sondern die Verteilung entspricht prozentual auch der unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Nun lässt sich fragen, ob die Art der Versicherung eine Rolle bei der Versorgung spielt, was insbesondere bei der Therapie chronischer Erkrankungen einen Unterschied macht. Betrachtet man Studien aus anderen Ländern, so Marie Auzanneau, ist in den USA beispielsweise die Art der Versicherung ausschlaggebend für den Zugang zur Diabetestechnologie.
In Deutschland sind die Daten zum Versicherungssystem sehr intransparent, was eine Analyse erschwert. Allerdings konnte herausgefunden werden, dass die Ausstattung mit Diabetestechnologie in Deutschland in der Regel nicht von der Art der Versicherung abhängt. Vielmehr spielen individuelle Faktoren sowie sprachliche und kulturelle Barrieren oder regionale Unterschiede eine Rolle.
Marie Auzanneau untersuchte in diversen Forschungsarbeiten, wie sich beispielsweise der sozioökonomische Status auf die Diabetesversorgung auswirkt. Dabei fiel auf: Vor allem in Bayern und Baden-Württemberg befinden sich die am wenigsten deprivierten Kreise in Deutschland. Entsprechende Deprivationsgrade der Kreise wurden dann in Zusammenhang mit dem HbA1c-Blutwert analysiert. Das beeindruckende Ergebnis: der HbA1c-Wert steigt mit zunehmender Deprivation – und das fast linear von 7,4% auf 7,7% in den benachteiligten Kreisen. Diese Ergebnisse lassen sich laut Auzanneau auch auf Erwachsene übertragen. Doch warum ist das so?
Zum einen herrscht ein signifikant ungleicher Zugang zu Diabetestechnologie, abhängig von regionalen Unterschieden. Während lediglich 46% der Kinder in Sachsen-Anhalt eine Insulinpumpe besitzen, sind es im Saarland ganze 73%. CGMs finden nur bei 53% der Kinder in Berlin Anwendung, in Schleswig-Holstein hingegen nutzen 94% der Kinder mit T1-Diabetes ein CGM. Es werden also große regionale Unterschiede in der Verwendung von Diabetestechnologie bei Kindern ersichtlich. Hängt dies nun mit der sozioökonomischen Deprivation zusammen? Wohl kaum. Denn: beispielsweise steigt die Verwendung der Pumpe mit der Deprivation an, ebenso wie CGMs und AID-Systeme. An einer verringerten Verwendung von Technologien können die schlechteren HbA1c-Werte also nicht liegen.
Eine andere Möglichkeit zur Erklärung wäre die Anzahl von Kindern mit Migrationshintergrund. Die Hypothese mehr Deprivation, mehr Migranten? scheint zunächst plausibel, denn der HbA1c-Wert ist höher, wenn Migrationsgeschichte vorliegt. Bei Kindern ohne Migration liegt dieser Wert bei 7,4%, bei migrantisch Kindern der zweiten Generation liegt dieser bei 7,7%. Allerdings zeigen die Daten auch, dass der Migrationsanteil bei Kindern mit Diabetes in den privilegierten Regionen höher ist als in den deprivierten.
Daher führten Marie Auzanneau und ihr Team eine Stratifikation der Ergebnisse nach Migrationshintergrund aus. Hier fällt auf: Sowohl bei Kindern mit als auch ohne Migrationshintergrund steigt der HbA1c-Wert mit sozioökonomischer Deprivation an. Dabei haben Kinder mit Migrationshintergrund durchgehend bei jedem Deprivationsgrad einen höheren HbA1c-Wert. Dies spricht dafür, dass sozioökonomische Deprivation und Migration zwei signifikante, unabhängige Einflussfaktoren auf den Blutwert sind. Jedoch herrscht zwischen diesen beiden Faktoren keine signifikante Interaktion.
Aus den analysierten Daten geht hervor, dass in sozioökonomisch benachteiligten Regionen der HbA1c-Wert höher liegt, allerdings sind dort sowohl die Nutzung von Diabetestechnologie als auch Pumpenschulungen häufiger. Ebenso hat der Deprivationsgrad einen ähnlichen Einfluss bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. Wenn es also nicht an der Diabetestechnologie liegt, können auch andere Faktoren wie Gesundheitskompetenz, Ernährungsweise, Bewegung und Schlafgewohnheiten eine Rolle spielen.
Auch bei Kindern mit Migrationshintergrund ist der HbA1c-Wert höher, während die Nutzung von Pumpen und AID-Systemen geringer ist, diese Verteilung ist in allen Regionen ähnlich. Mögliche Gründe hierfür sind sprachliche und kulturelle Hürden, die beispielsweise beim Ausfüllen von Anträgen oder der Inanspruchnahme von Hotlines auftreten.
Nun lässt sich fragen, wo angesetzt werden kann, um die Ungleichheit in der Diabetesversorgung zu minimieren. Da Kinder mit Migrationshintergrund auch stratifiziert einen höheren Hba1c-Wert haben, gibt es hier Verbesserungspotenzial: Beispielsweise durch Betreuungsangebote in mehreren Sprachen sowie den Abbau kultureller Hürden bei der Diabetesbehandlung.
Studien aus den USA, Kanada, UK und Neuseeland belegen, dass in diesen Ländern die Art der Krankenversicherung eine essentielle Rolle spielt. Die Versicherungsart geht mit schlechterer Versorgung einher und wird teilweise durch den sozioökonomischen Status, regionale Deprivation und Migration bedingt. Diese Faktoren haben alle einen Einfluss auf die Nutzung von Diabetestechnologie sowie Behandlungsergebnisse.
Dabei muss festgehalten werden, dass die Verwendung von Diabetestechnologie in vielen Fällen nur ein Mediator, also nur ein Teil der Erklärung, ist. Denn: Die Nicht-Nutzung von Diabetestechnologie verschlimmert Ungleichheiten zwar, erklärt aber nicht den kompletten Zusammenhang.
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