Ärztetag fordert vor dem Hintergrund von Krisen umfassenden Politikansatz

Der Deutsche Ärztetag erwartet von der Politik eine gewaltige intellektuelle Anstrengung: eine Health-in-All-Policy, in der gesundheitliche Aspekte auch in der Umwelt-, Bildungs-, Arbeits- und Baupolitik mitgedacht werden.

COVID-19-Pandemie: Folgen sind längst nicht überwunden

Die Corona-Pandemie ist zwar offiziell für beendet erklärt – ihre Folgen sind aber noch lange nicht überwunden: der Bildungsrückstand bei Kindern und Jugendliche, die schwere psychischen Schäden, die durch Lockdowns entstanden sind, Long-COVID, fragile Lieferketten und Medikamentenengpässe – und nicht zuletzt die systematische globale Vorbereitung auf neue, wahrscheinlicher werdende Pandemien. Gesundheit als Voraussetzung für ein produktives Leben wird dabei von fast allen Politikbereichen mit beeinflusst – und das macht nach Auffassung des Ärztetages, der am 19.05. in Essen zu Ende ging, einen umfassenden und integrierten Politikansatz notwendig, an dem die Ärzteschaft aufgrund ihres Sachverstandes partizipieren müsse.

Vorgeschlagen wird dazu die Errichtung eines ressortübergreifenden Deutschen Gesundheitsrates unter Beteiligung der Bundesärztekammer und weiterer Vertreter der Selbstverwaltung und der Wissenschaft, der nach dem Vorbild des Deutschen Ethikrates seine Expertise unter gesundheitsrelevanten Aspekten ressortübergreifend einbringt.  

Gesundheitskompetenz in Deutschland stark eingeschränkt

Nicht zuletzt aus diesem Grund widmete der Ärztetag dem Thema Gesundheitsbildung und Gesundheitskompetenz einen eigenen Tagesordnungspunkt. Just zum Ärztetag wurde eine Studie von Bildungsforschern veröffentlicht, die dem Bildungssystem – vor allem in der frühkindlichen Bildung – ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellt: ein Viertel der Viertklässler kann nicht richtig lesen. 

Zu den Grundkompetenzen, die in Schulen und Kitas ebenfalls fast überhaupt nicht vermittelt werden, gehört Gesundheitswissen: "Mit Sorge" sehen Ärzte "verbreitete gesundheitliche Probleme, die in der jungen Generation im Zusammenhang mit Bewegungsmangel, Übergewicht, Drogenkonsum und psychischen Störungen bestehen." Jedes siebte Kind sei übergewichtig, jeder sechste Jugendliche rauche, zuletzt wieder mit steigender Tendenz.

Von den Bildungsministern der Länder fordert der Ärztetag eine länderübergreifend abgestimmte Strategie zur Förderung der Gesundheitskompetenz in Kitas und Schulen. Konkrete Lerninhalte: Ernährung, Bewegung, Sexualität, psychische Gesundheit, aber auch Verhalten bei Notfällen, wie zum Beispiel Wiederbelebungsmaßnahmen.

Ernste Sorge um sichere Arzneiversorgung

Ein weiteres Problemfeld, das nicht nur die Gesundheitspolitik, sondern auch die Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik, und zwar im internationalen Maßstab, fordert, sind zunehmende Lieferengpässe und Versorgungsschwierigkeiten mit teils essenziellen Arzneimitteln wie Antibiotika und Medikamente für Kinder. Das trifft, wie Ärztetags-Delegierte berichteten, die Praxis in der Breite. Allein zwischen September 2022 und Februar 2023 sei die Zahl der vom BfArM ermittelten Lieferengpässe von 300 auf 400 gestiegen. Sie betreffen auch Onkologika, Antiarrhythmika und Statine. Der Ärztetag fordert deshalb die Errichtung einer nationalen Arzneireserve für versorgungskritische und versorgungsrelevante Wirkstoffe, Anreize zur Rückführung der Produktion nach Europa einschließlich der Produktion von Ausgangs- und Hilfsstoffen, EU-weite Lösungen für immer wiederkehrende Lieferengpässe, eine Diversifizierung der Lieferketten. Ärzte müssten gesetzlich vor Regressen geschützt werden, wenn sie als Folge von Lieferengpässen Arzneimittel austauschen müssen, etwa durch zu große, unwirtschaftliche Packungsgrüßen.  Im Notfall- und Bereitschaftsdienst sollten Ärzte ein freiwilliges Dispensierrecht haben, um Patienten die Odyssee zu mehreren Apotheken zu ersparen. Bereits zuvor hatte die KBV-Vertreterversammlung eine finanzielle Kompensation der Mehrarbeit als Folge von Lieferengpässen gefordert.

Krankenhausreform – Auswirkungen auf die Weiterbildung bedenken 

Mit Blick auf die anstehende Krankenhaus- und Notfallreform – beides ist aus Sicht der Ärzteschaft dringend notwendig – fordert der Ärztetag dringend die bessere und systematische Einbindung ärztlichen Sachverstandes. Bei der Reform müsse auch der bislang völlig vernachlässigte Aspekt der Realisierbarkeit der ärztlichen Weiterbildung und Qualifikation beachtet werden.

Eine mögliche Folge der Neustrukturierung der Krankenhäuser in vier Versorgungslevels und ihnen zugeordneten Leistungsbereichen kann eine Verengung der Weiterbildungskapazitäten in den Kliniken sein. Betroffen wären vor allem Gebiete, in denen primär und überwiegend stationär weitergebildet wird. Hierfür müssten – analog zur Allgemeinmedizin Weiterbildungsverbünde – auch unter Einbeziehung der ambulanten Kapazitäten bei niedergelassenen Fachärzten – organisiert werden. Welches Fachgebiet in welchem Ausmaß betroffen ist, ist derzeit noch völlig unbekannt. 

Tatsache ist: Bei den bisherigen konzeptionellen Beratungen war dies nie ein Thema. Um die Auswirkungen in ihren Dimensionen abzuschätzen, müsste allerdings bekannt sein, wie sich Versorgungsaufträge, fachlicher Zuschnitt und Kapazitäten der Krankenhäuser nach der Reform verändern könnten. Primär wäre das zunächst eine Aufgabe der Kammern – aber die Sicherstellung der Weiterbildung als Voraussetzung dafür, dass in Zukunft ausreichend fachärztlicher Nachwuchs zur Verfügung steht, müsste wahrscheinlich auch durch eine adäquate Finanzierung flankiert werden. 

Von Bedeutung ist dies auch im Hinblick auf eine weitere Forderung des Ärztetages: die Zahl der Medizinstudienplätze bundesweit um 6.000 aufzustocken. Dieses Petitum der Ärzteschaft hat einen wichtigen Fürsprecher: Karl Lauterbach. Als Bundesgesundheitsminister kann er das unterstützen und hat dafür auch wohlwollende Worte zur Eröffnung des Ärztetages gefunden. In seiner Macht steht es nicht. Zuständig sind primär die Bildungsminister der Länder – und natürlich die Finanzminister. 

Personalien

Dr. Klaus Reinhardt ist im Amt des Präsidenten der Bundesärztekammer bestätigt worden. Der 62-jährige aus Bielefeld stammende Allgemeinarzt setzte sich gegen seine Gegenkandidatin Dr. Susanne Johna – die Infektiologin aus Rüdesheim ist Vorsitzende des Marburger Bundes – mit 125 zu 122 Stimmen knapp durch. Susanne Johna wurde anschließend zu einer der beiden Vizepräsidentinnen gewählt. Als Vizepräsidentin bestätigt wurde die niedergelassene HNO-Ärztin Dr. Ellen Lundershausen aus Erfurt.