esanum: Kürzlich haben Sie einen Workshop über den Ausweg aus der Lustlosigkeit beim FOKO-Kongress gehalten. Können Sie uns erläutern, welche Ursachen für Libidostörungen in der Praxis besonders häufig sind und wie Ärzte diese effizient erkennen und ansprechen können?
Dr. Engel-Széchényi: Gerne! Libidostörungen haben vielfältige, multimodale Ursachen und benötigen ein ausführliches biopsychosoziales Anamnesegespräch. Die häufigsten Ursachen in der klinischen Praxis sind Stress- und Erschöpfungszustände, die sowohl Frauen als auch Männer betreffen. Tatsächlich ist die Libidostörung bei Männern inzwischen häufig verbreiteter als die Erektionsstörung. Eine andere Ursache kann die Dynamik in Langzeitbeziehungen sein, wo die Spontanlust oft bei einem der Partner nachlässt. Krankheiten, insbesondere solche, die die Sexualorgane betreffen, wie Brustkrebs oder Unterleibserkrankungen, sind ebenfalls ein wesentlicher Faktor. Besonders in der Stillzeit tritt oft eine Verringerung des sexuellen Verlangens auf. Um diese Themen effizient anzusprechen, sollte der Arzt entscheiden, ob Sexualität Teil des Gesprächs sein soll. Eine einfache Möglichkeit ist eine offene Frage, etwa: „Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Sexualität?“ Das ermöglicht den Patienten, selbst zu entscheiden, ob sie darüber sprechen möchten. Signalisieren Sie Bereitschaft, zuzuhören. Zu fragen „Haben Sie eine eigene Erklärung für die veränderte Libido?“ oder „Möchten Sie etwas daran ändern?“ kann ebenfalls helfen, das Thema zu vertiefen.
esanum: Sie betonen, dass es keine schnellen Lösungen für Libidostörungen gibt. Welche Schritte sollte ein Arzt unternehmen, um eine adäquate Behandlungsmethode zu entwickeln?
Dr. Engel-Széchényi: Eine schnelle Lösung gibt es selten, aber der erste Schritt ist der Austausch mit dem Patienten über das Thema, was oft schambesetzt ist. Schon das Gespräch darüber kann einen Auseinandersetzungsprozess in Gang setzen. Ein weiterer Ansatz ist das Normalisieren der Situation, das bedeutet Patientinnen zu beruhigen, indem man ihnen erklärt, dass ihre Empfindungen normal sind, wie etwa in der Stillzeit. In einer einfachen gynäkologischen Sprechstunde können wir auch pflanzliche Mittel wie Maca empfehlen, die die Libido unterstützen. In den Wechseljahren kann eine Hormonersatztherapie sinnvoll sein.
esanum: Was verstehen Sie unter dem Ansatz „sich von der Lösung lösen“, und warum ist das für Ärzte wichtig?
Dr. Engel-Széchényi: Wir sind es gewohnt, dass wir in unserem Leben und als Ärzte pragmatisch handeln: Ein Problem taucht auf, wir lösen es, und das Thema ist erledigt. Das ist in vielen Lebensbereichen hilfreich, jedoch nicht bei allen Anliegen machbar. Manche Dinge sind Prozesse, die Zeit und Geduld erfordern, bei denen man den Weg erst finden muss. Wenn ich von „sich lösen von der Lösung“ spreche, meine ich, dass wir als Ärzte nicht erwarten sollten, unmittelbar eine Lösung für jedes Problem parat zu haben. Wir müssen uns davon freimachen, sofort die Antwort zu liefern – das ist oft nicht möglich.
Stattdessen sollten wir uns als Moderatoren oder Anstoßgeber verstehen. Mit unserem Wissen können wir den Patienten sinnvolle Hinweise geben oder mögliche Ursachen aufzeigen. Unsere Aufgabe ist es, einen Denkprozess in Gang zu setzen, den die Patientin und eventuell der Partner selbstständig durchlaufen müssen. Wir helfen dabei, Entwicklungen anzustoßen, aber der eigentliche Prozess ist der des Patienten. Es ist wichtig, das zu erkennen und sich darüber als Arzt zu entspannen.
esanum: Was empfehlen Sie hinsichtlich der Integration von Interventionsstrategien in den Praxisalltag, insbesondere für Ärzte mit engem Zeitmanagement?
Dr. Engel-Széchényi: Ja, das ist eine sehr wichtige Frage. Ich glaube, diese Frage hat große Bedeutung. Natürlich arbeite ich in einer Schwerpunktpraxis und nehme mir immer Zeit für die Patienten. Doch der Alltag eines kassenärztlichen Kollegen, bei dem ich selbst viele Jahre in einer Kassenarztpraxis gearbeitet habe, sieht oft so aus, dass man im besten Fall etwa 10 Minuten für einen Patienten hat. Normalerweise betreut man etwa 50 Patienten am Tag. Und oft ist es der Patient Nummer 43, der plötzlich sagt: "Ach, Frau Doktor, ich wollte Sie schon lange mal etwas fragen. Ich habe keine Lust mehr auf Sex."
Genau das ist die Herausforderung. Wie löst man solche Situationen, ohne dass die Sprechstunde überläuft und ohne dass die Patientin sich abgewimmelt fühlt? Wie schafft man das? Wir empfehlen, dass der Arzt die Patientin noch mal kurz hereinbittet und sagt: "Ich höre, da ist noch eine Frage." Dann sollte man der Patientin erklären: "Frau Müller, ich habe verstanden, dass dies ein wichtiger Punkt für Sie ist. Aber bitte verstehen Sie, dass ich das in der Routinesprechstunde nicht bearbeiten kann. Ich biete Ihnen jedoch an, in ein oder zwei Wochen einen etwas längeren Termin speziell für dieses Thema zu vereinbaren. Vielleicht möchten Sie mit Ihrem Partner kommen, oder auch allein. Dann können wir uns diesen Aspekt in Ruhe anschauen."
Diesen Ansatz schulen wir, weil es wichtig ist, dass die Sorgen des Patienten aufgenommen werden, aber nicht sofort bearbeitet werden können. Das führt zu Zufriedenheit, denn die Patienten fühlen sich wahrgenommen und ernst genommen. Ein Termin in naher Zukunft wird organisiert, und das funktioniert gut. Es ist wichtig, diesen Termin dann auch einzuhalten und die Zeit zu befristen, denn Zeit ist wertvoll. Man sagt: "Frau Müller, wir haben jetzt 20 Minuten, um über das Thema zu sprechen, das Ihnen neulich so wichtig war. Wir können überlegen, woran es liegt, wo Ihr Leidensdruck herkommt, und auch, wie der Partner betroffen ist."
Es ist entscheidend, dass man sich vorab überlegt, ob man solche Themen annehmen will. Wenn nicht, finde ich es legitim, auf die Möglichkeit zur Überweisung hinzuweisen, damit den Patienten weitergeholfen wird. Ärzte müssen sich selbst im Klaren darüber sein, ob sie solche Themen behandeln möchten. So gibt es zwei Möglichkeiten: Das Thema Sexualität betrifft uns alle, auch Ärzte. Niemand muss alles machen können. Doch es ist wichtig, den Patienten etwas anzubieten, damit sie nicht mühsam im Internet nach Hilfe suchen müssen.
esanum: Welche Rolle spielen physiologische und psychologische Faktoren bei der Behandlung von Libidostörungen, und wie wichtig ist eine interdisziplinäre Herangehensweise?
Dr. Engel-Széchényi: Libidolust entsteht in erster Linie im Kopf – unser Gehirn ist das größte Sexualorgan und die zentrale Schaltstelle für das Verlangen, nicht etwa körperliche Organe. Der Bulbo-Klitoral-Komplex mag das Zielorgan sein, doch die wahre Steuerung findet zwischen den Ohren statt. Der Kopf bestimmt, ob wir uns fallen lassen können, ob wir offen für Sinnesreize sind.
Diese psychologischen Faktoren, die Lust beeinflussen, werden oft durch viele Umstände stark beeinträchtigt: Ob durch gesundheitliche Probleme, Beziehungsdynamiken oder traumatische Erlebnisse, wie z.B. schmerzhafte Ereignisse innerhalb einer Partnerschaft. Psychologische Faktoren sind daher oft die stärkeren Einflussnehmer. Allerdings sollte man das einer Patientin niemals direkt so ausdrücken, denn sie könnte es als Kritik verstehen. Als Ärzte müssen wir sowohl psychologische als auch physiologische Aspekte im Blick haben.
Eine interdisziplinäre Herangehensweise ist oft sinnvoll. Wir ziehen möglicherweise Endokrinologen oder Neurologen hinzu, um bestimmte Fragestellungen abzuklären. In der Regel erfordert ein tiefgründiges Verständnis der Thematik eine spezielle Weiterbildung, die es ermöglicht, sowohl die psychologischen als auch die physischen Faktoren umfassend zu betrachten.
esanum: Gibt es noch ein wichtiges Thema, das Sie ansprechen möchten?
Dr. Engel-Széchényi: Ein wichtiger Beratungsaspekt ist die Entpathologisierung des Begriffs "Störung". Besonders in Langzeitbeziehungen wird oft das Fehlen von „Spontanlust“ als Problem empfunden. Diese spontane sexuelle Anziehung, bei der man unabhängig von Müdigkeit oder Stress übereinander herfällt, verändert sich im Laufe einer Beziehung und kann verschwinden. Patienten wünschen sich oft, diese Spontanlust wiederherzustellen, was aber untrennbar mit der Zeitspanne, die man zusammen ist, verbunden ist.
Es ist wichtig, zwischen einer generellen Libidostörung und dem natürlichen Wandel der Spontanlust zu unterscheiden. Fragen wie „Habe ich noch Fantasien?“, „Kommt der Appetit, wenn ich in eine Interaktion eintrete?“ oder „Fühle ich Verlangen für andere?“ helfen, den Unterschied zu verstehen. Solange Paare im Zusammensein Freude empfinden, gibt es eigentlich kein Problem. Die Erwartung, die ursprüngliche Spontanlust zurückzugewinnen, ist oft unrealistisch und findet meist nur statt, wenn man sich neu verliebt. Mit dem gleichen Partner wird das nicht auf die gleiche Weise möglich sein. Das zu akzeptieren fällt vielen schwer, auch weil angenommen wird, dass dies den Spaß an der Sexualität mindert. Als ob das „in die Lust kommen“ schlechter wäre.
Dr. Roswitha Engel-Széchényi ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe und ärztliche Psychotherapeutin (tiefenpsychologisch). Sie führt die Zusatzbezeichnung Sexualmedizin und Sexualtherapie und ist in der Deutschen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Sexualpsychologie (DGSMP) als DGSMP- Expert zertifiziert.
Seit 1/2025 hat sie die wissenschaftliche Leitung der AG Sexualmedizin Deutschland übernommen und ist in dieser Funktion an der Weiterbildung von Fachkollegen im Fach Sexualmedizin engagiert, überdies ist sie Prüferin für die Zusatzbezeichnung Sexualmedizin an der Landesärztekammer Nord-Württemberg. Ihre Vortragstätigkeit zu sexualmedizinischen Themen erstreckt sich auf viele nationale Fachkongresse.