Cholesterin-Paradigma: Ist weniger wirklich immer besser?
Neue Daten, die in Frontiers of Endocrinology erschienen sind, stellen das Cholesterin-Paradigma „weniger ist immer besser“ in Frage, vor allem für alte Menschen.
Ist „so niedrig wie möglich“ zielführend?
- Besonders niedrige Gesamtcholesterinspiegel waren in einer nationalen Längsschnittstudie mit einer gestiegenen Gesamtsterblichkeit in höherem Alter (über 85 Jahren) assoziiert
- Die Einbeziehung potenzieller Einflussfaktoren, wie dem Ernährungsverhalten und chronischen Erkrankungen, beeinflusste diesen Zusammenhang nicht
- Die Studie legt nahe, dass der Gesamtcholesterinspiegel bei älteren Menschen auf einem moderaten Niveau (≥ 3,40 mmol/l bzw. 131 mg/dl) gehalten werden sollte, um ein langes Leben zu fördern
Cholesterin – kann es auch zu niedrig sein?
Diese Frage wirft eine aktuelle Auswertung von 903 Teilnehmern der 'Chinese Longitudinal Healthy Longevity Survey' (CLHLS) erneut auf.1 Sie berichtet einen signifikanten inversen Zusammenhang zwischen dem Gesamtcholesterinspiegel und der Gesamtmortalität (aus jeglicher Ursache heraus). Eine Stratifizierung nach dem Gesamtcholesterinkonzentration zum Ausgangszeitpunkt (niedrig: <3,40; mittel: 3,40–4,39; hoch: ≥4,39 mmol/L) ergab eine niedrigere Sterblichkeit in der mittleren (HR = 0,72, 95% KI: 0,53-0,97) und hohen Gruppe (HR = 0,71, 95% KI: 0,52-0,96) im Vergleich zur niedrigsten. Bei Verwendung der Cholesterinkonzentration als kontinuierliche Variable zeigte sich, dass das Sterberisiko um 12 % anstieg, wenn der Cholesterinwert um jeweils 1 mmol/l gesenkt wurde. Personen aus der mittleren und hohen Kategorie hatten eine um 10,1 % resp. 13,0 % höhere 2-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit als die in der niedrigsten.
Die Analyse wurde für potenzielle Einflussfaktoren kontrolliert, indem Ernährungsstatus oder physiologische Daten mit in das Modell aufgenommen wurden. Interessanterweise war der Zusammenhang hiervon unberührt und auch Vorerkrankungen, wie Diabetes, Herzkrankheiten und Schlaganfälle, waren nicht signifikant mit der Gesamtmortalität verknüpft. Der Vorhersagewert traditioneller Risikofaktoren für die Sterblichkeit könne bei älteren Menschen im Vergleich zu jüngeren Bevölkerungsgruppen abnehmen, erklären die Studienautoren unter Verweis auf frühere Studien.
Sie unterstreichen die Notwendigkeit weiterer Forschung, um diese Ergebnisse zu validieren und resümieren: „Unsere Resultate tragen zu der wachsenden Evidenz bei, die das Paradigma „niedriger ist besser“ für Cholesterinwerte bei älteren Erwachsenen in Frage stellt. Ihren Daten nach könnte der optimale Bereich zwischen 3,40 und 5,18 mmol/l (131–200 mg/dl) liegen.
Da sich die physiologischen Funktionen von Cholesterin mit dem Alter verändern, könne der Zusammenhang zwischen Cholesterinspiegel und Gesamtmortalität jedoch je nach Alter unterschiedlich sein und altersspezifische Behandlungsempfehlungen wären sinnvoll, so die Autoren.1
Mit welchen Risiken sind besonders niedrige Cholesterinspiegel verbunden?
Cholesterin hält wichtige Funktionen bei der Regulierung vieler zellulärer Prozesse inne, ist entscheidend für die Fluidität und Permeabilität der Zellmembranen, spielt eine Rolle bei der Gentranskription und bildet die Grundlage aller Steroid-/ Sexualhormone und Vitamin-D-Analoga.2 Es kommt in praktisch allen Zellen des Körpers vor. Im cholesterinreichsten Organ des Körpers, dem Gehirn (enthält fast 25 % der Gesamtmenge) ist es ein wichtiger Bestandteil der Myelinscheiden und somit bedeutsam für die Hirngesundheit.3
Die oben vorgestellte Studie hat einige Limitationen, aber ihre Beobachtungen stehen in Einklang mit denen anderer, teils sehr großer Studien mit längeren Nachbeobachtungszeiten. Eine ältere, aber hochrangig publizierte Längsschnittstudie aus dem Lancet berichtete bei über 85-Jährigen bereits einen protektiven Zusammenhang zwischen hohem Gesamtcholesterin und höherer Lebenserwartung (aufgrund geringerer Sterblichkeit durch Krebs und Infektionen).4 Das 'Honolulu Heart Program' kam zu dem Schluss, dass niedrige Cholesterinkonzentrationen über lange Zeit das Sterberisiko erhöhten.5 Die Autoren, für die das Ergebnis unerwartet war, resümierten: „Diese Daten lassen Zweifel an der wissenschaftlichen Rechtfertigung einer Senkung des Cholesterinspiegels auf sehr niedrige Konzentrationen (< 4,65 mmol/l bzw. 180 mg/dl) bei älteren Menschen aufkommen.“
Eine neuere prospektive 10-Jahres-Studie aus Korea fand einen U-förmigen Zusammenhang zwischen Gesamtcholesterin und Gesamtmortalität bei 75–99-Jährigen.6 Ein Cholesterinwert von 210-249 mg/dL war mit dem geringsten Mortalitätsrisiko verbunden, was über dem empfohlenen Wert liegt.1
Starke Kritik an zu niedrigen Zielwerten und mangelnder Evidenz
Als 2019 die neue europäische Leitlinie zur Lipidsenkung erschien, wurde deren Paradigma „so niedrig wie möglich“ von verschiedenen Seiten bereits kritisch diskutiert. In einem von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) veröffentlichten Artikel war zu lesen: „Die neuen Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) und der European Atherosclerosis Society (EAS) erweitern erheblich den Kreis der medikamentös behandlungsbedürftigen Menschen mit Hyperlipidämien. Die Grenze zwischen Primär- und Sekundärprävention wird aufgehoben, und die LDL-Zielwerte werden nochmals stark herabgesetzt. Ezetimib und PCSK9-Hemmer erhalten eine Klasse-1-Empfehlung, ohne dass es neue und stichhaltige Belege für eine günstige Nutzen-Risiko-Relation oder Kosteneffektivität gibt.“7
Beanstandet wurden hierbei im Besonderen das kritikwürdige Evidenzniveau sowie die Tatsache, dass die Taskforce nicht unabhängig ist. Der Beitrag der AkdÄ wies in dem Zusammenhang darauf hin, dass nur 2 der 21 Autoren keine Interessenkonflikte mit pharmazeutischen Unternehmern (pU) angaben – ein Autor hatte sogar Interessenkonflikte mit 48 pU. Knapp 70 % der Mitwirkenden wiesen Interessenkonflikte mit Herstellern von PCSK9-Hemmern auf. Auch innerhalb der ESC wurden erhebliche Interessenkonflikte mit der Industrie hervorgehoben (75,5 % ihrer jährlichen Gesamteinnahmen von 71,9 Mio. € kamen direkt oder indirekt aus der Industrie). „Daher stellt sich ernsthaft die Frage, ob derartige Fachgesellschaften überhaupt Leitlinien erstellen sollten“ schloss der Artikel.7 „Nach unserer Einschätzung kann [diese Leitlinie] allenfalls als interessengeleitetes Positionspapier einer industrienahen Fachgesellschaft bezeichnet werden.“
- Hu, F. et al. Association between total cholesterol and all-cause mortality in oldest old: a national longitudinal study. Front. Endocrinol. 15, (2024).
- Schade, D. S., Shey, L. & Eaton, R. P. Cholesterol Review: A Metabolically Important Molecule. Endocr Pract 26, 1514–1523 (2020).
- Vitali, C., Wellington, C. L. & Calabresi, L. HDL and cholesterol handling in the brain. Cardiovascular Research 103, 405–413 (2014).
- Weverling-Rijnsburger, A. W. et al. Total cholesterol and risk of mortality in the oldest old. Lancet 350, 1119–1123 (1997).
- Schatz, I. J. et al. Cholesterol and all-cause mortality in elderly people from the Honolulu Heart Program: a cohort study. Lancet 358, 351–355 (2001).
- Yi, S.-W., Yi, J.-J. & Ohrr, H. Total cholesterol and all-cause mortality by sex and age: a prospective cohort study among 12.8 million adults. Sci Rep 9, 1596 (2019).
- Neue europäische „Leitlinie“ zur Lipidsenkung: As low as possible? Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft https://www.akdae.de/arzneimitteltherapie/arzneiverordnung-in-der-praxis/ausgaben-archiv/ausgaben-ab-2015/ausgabe/artikel?tx_lnsissuearchive_articleshow%5Baction%5D=show&tx_lnsissuearchive_articleshow%5Barticle%5D=4720&tx_lnsissuearchive_articleshow%5Bcontroller%5D=Article&tx_lnsissuearchive_articleshow%5Bissue%5D=23&tx_lnsissuearchive_articleshow%5Byear%5D=2020&cHash=bbfdce4b1cd375a5185d39c74202abc5 (2020).