Prof. Dr. med. Gerhard Hindricks ist Facharzt für Kardiologie und Innere Medizin und seit 1998 Ärztlicher Direktor der Abteilung Rhythmologie am Herzzentrum Leipzig. In diesem Jahr ist er zudem Präsident der 88. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie, Herz- und Kreislaufforschung.
esanum: Prof. Hindricks, welche "neuen Räume" wollen Sie für die Kardiologie öffnen?
Hindricks: Wir müssen uns auf eine dramatische Verschiebung der Zuständigkeiten im Gesundheitswesen einstellen. Es werden sich über die traditionellen medizinischen Strukturen hinaus neue Versorgungsräume entwickeln. Ich meine damit virtuelle Gesundheitsfürsorge, auch kardiovaskuläre Gesundheitsräume in der Häuslichkeit. Dazu gehört die Selbstdiagnose und die intensivere Beteiligung der Patientinnen und Patienten am Gesundungsprozess.
esanum: An welche Beispiele denken Sie da?
Hindricks: Es geht um digitale Produkte, Wearables, Lifestyle-Technologien. Die Detektion von Vorhofflimmern kann heute über Smartwatches laufen. Auch im Bereich der arteriellen Hypertonie und der Diabetesdiagnostik und Behandlungsbegleitung finden diese Technologien Eingang. Das wird zu einer Zunahme der Qualität in der Gesundheitsversorgung führen, die Dinge werden einfacher und effektiver werden.
esanum: Was heißt das für Ihr Fach, die Kardiologie?
Hindricks: Für uns Kardiologen ist es wichtig, dass wir uns aktiv an diesen Entwicklungen beteiligen, dass wir Einfluss nehmen, unsere Kompetenz, unsere Nähe zu den Patienten einbringen. Wir dürfen den neuen Spielern in der Gesundheitsversorgung das Feld nicht allein überlassen. Wir müssen unsere Aufgaben hier neu definieren. Ob das die niedergelassenen Kardiologen, die Kollegen in den Städtischen Krankenhäusern oder im akademischen Bereich sind – alle müssen sich mit diesen Prozessen beschäftigen. Wir dürfen den technologischen Partnern diese neuen Räume nicht exklusiv überlassen, sondern müssen auch mit ihnen in die Auseinandersetzung gehen. Es läuft heute bereits vieles unterm Radar, woran wir nicht beteiligt sind. Wir dürfen die Geschwindigkeit dieser Veränderungen nicht unterschätzen. Deswegen müssen wir uns jetzt proaktiv, sichtbar und selbstbewusst in diesen Prozess einbringen. Das steht für die DGK ganz oben auf der Priorisierungsliste. Dafür ist unser Kongress eine sehr gute Plattform. Um dieser Entwicklung Anschub und Nachhaltigkeit zu verleihen.
esanum: Was bedeutet das für den Umgang mit den Patientinnen?
Hindricks: Es geht um Zugang zu den Versorgungsstrukturen. Wenn beispielsweise die Applewatch anzeigt: Sie haben möglicherweise Vorhofflimmern, dann sind Sie besorgt und wissen gar nicht, wohin Sie mit dieser Warnung gehen sollen. Zur Notaufnahme? Zum Kardiologen? Zum Hausarzt? Ins Internet? Und da sind wir Ärzte jetzt gefordert. Wir müssen dafür digitale Strukturen schaffen. Wer als Anbieter dieser Lifestyle-Monitore als erster Zugang zu Gesundheitsdaten hat, hat auch als erster Einfluss auf die Steuerung weiterer Prozesse in Diagnostik und Therapie. Die Apple-Heart-Studie hat diesen Weg bereits völlig außerhalb des traditionellen Gesundheitswesens vorexerziert.
esanum: Sorgen Sie sich darum, dass die Medizin technisch abgehängt wird?
Hindricks: Ich möchte keine Technologieängste schüren, sondern unseren Berufsstand klar und deutlich zum Einmischen aufrufen. Und ich sehe viele Entwicklungen in der DGK, gerade bei den jungen Kardiologen, die dazu beitragen. Auch die Fortbildungsstrategien sind stark auf dieses Thema fokussiert. Deshalb haben wir dieses Kongressmotto gewählt. Wir beschäftigen uns dort intensiv mit dem Dreiklang aus Digitalisierung, Ambulantisierung, Zentrenbildung.
esanum: Was ist der unmittelbar nächste Schritt in die Zukunft?
Hindricks: Wir werden die Verfügbarkeit von Wearables, Apps, in Prävention und Diagnostik sehen. Jetzt müssen wir die Andockstellen für die Patienten in der Behandlung schaffen. Die Detektion von Vorhofflimmern ist ja per se kein Zugewinn an Gesundheit. Der Zugewinn wird in dem Moment erreicht, wo die entsprechenden Signale in Behandlung umgesetzt werden. Erst dieser Schritt führt dann zu weniger Schlaganfällen, weniger Herzinfarkten. Und hier sind wir Kardiologen aufgefordert, Pfade aufzubauen, die das einfach und sicher ermöglichen. Ein zweiter aktueller Zugewinn ist die digitale Begleitung von Interventionen und Operationen. Die Erfassung der unzähligen Daten und der biologischen Signale während einer Intervention werden Qualität und Behandlungssicherheit erheblich steigern. Hier wünsche ich mir Mut und Entschiedenheit bei der Implementierung neuer Technologien.
Die 88. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie findet vom 20. bis 23. April 2022 als Hybridkongress statt. Das Motto der diesjährigen Veranstaltung ist: Räume für kardiovaskuläre Gesundheit. Warum gerade dieses Motto? Auch in der Kardiologie werden die Themenfelder Digitalisierung, Ambulantisierung sowie Netzwerk- und Zentrenbildung in den kommenden Jahren zu bedeutsamen Veränderungen in diesem Fachgebiet führen. esanum wird die neuesten Erkenntnisse aus der Kardiologie auf der Kongress-Seite zusammenfassen.