Dopamin-Ermüdung: wenn das Gehirn sich nicht mehr freuen kann
Eine amerikanische Wissenschaftlerin und Psychiaterin zeigt, wie Überkonsum und schnelle Bedürfnisbefriedigung unser Gehirn neu verdrahten und zu Depressionen und Ängsten beitragen.
Die Dopamin-Falle: die Kollision zwischen unseren modernen Problemen und unseren Urgehirnen
Eine wichtige Erkenntnis der Neurowissenschaften der letzten Jahrzehnte ist, dass die gleichen Hirnareale, die Vergnügen verarbeiten, auch für Schmerz zuständig sind. Wie alle Systeme in der Natur streben die Prozesse im Gehirn in Reaktion auf Abweichungen von der Neutrallage rasch wieder nach Ausgleich, nach Homöostase. Tun wir etwas, das Aufregung oder Spaß verspricht, beispielsweise Youtube-Videos zu schauen, setzt unser Gehirn ein wenig Dopamin frei und die Waage kippt Richtung Freude. Müssen wir diese Aktivität beenden, die uns dieses gute Gefühl gegeben hat, schlägt das Pendel in gleichem Maße in die Gegenrichtung aus. Wir verspüren einen Kummer oder einen Widerstand, möchten "nur noch ein" weiteres Video schauen, und wenn wir dem eine Weile nachgegeben haben, erleben wir nach dem Abschalten so etwas wie einen "Hangover", sacken erst einmal in ein kurzes Stimmungstief. Was ist neurobiologisch mit uns los, warum fühlen wir uns so schlecht? Was wir spüren, sind die Effekte einen akuten Dopamin-Entzugs. Andere gängige Beispiele wären Kinder, die nach einer kurzen Sendung den Fernseher ausschalten oder Jugendliche, die ihr Computerspiel beenden sollen. Nicht selten zeigen sich in diesen "Comedown"-Phasen Reizbarkeit, Wutausbrüche und ein sehr starkes Bestreben, die Tätigkeit fortzusetzen.
Chronische (und darauf liegt die Betonung) Überstimulation oder Überkonsum von Substanzen oder Verhaltensweisen, die im Belohnungszentrum einen besonders starken Reiz auslösen ("highly reinforcing") veranlassen das Gehirn zu einer Kompensation: es kommt zu einer massiven Herunterregulation der Dopamin-Signalwege. Die Dichte der Dopamin-Rezeptoren wird reduziert, sodass alles wieder halbwegs in Homöostase gebracht ist. Wenn wir dieses Muster über Wochen oder Monate hinweg täglich stundenlang beibehalten, verändert sich der Sollwert des Gehirns für Vergnügen. Jetzt müssen Betroffene weiterspielen – nicht um Vergnügen zu empfinden, sondern um sich überhaupt normal zu fühlen. Sobald wir aufhören, erleben wir die Talfahrt des Entzuges. Die Sucht kann sich dabei auf vieles richten: ungesundes Essen, Computerspiele, ständig aufs Handy zu schauen, ohne es zu wollen, soziale Medien, Genuss- und natürlich Rauschmittel, Sex oder auch Arbeit. Das Vollbild eines Dopamin-Defizits ist ein Zustand, in dem nichts mehr wirklich Freude hervorruft, stattdessen wird der Durchhänger oder Schmerz bei Abstinenz zur wichtigsten Triebkraft, warnt Dr. Anna Lembke, Professorin für Psychiatrie und Suchtmedizin an der Stanford University School of Medicine und Leiterin der Stanford Addiction Medicine Dual Diagnosis Clinic. Sie wurde mit zahlreichen Preisen für herausragende Forschung im Bereich psychischer Erkrankungen, ihre Lehrtätigkeit und innovative Behandlungsansätze ausgezeichnet, außerdem ist sie Autorin des New York Times-Bestsellers "Dopamin-Nation: Balance finden im Zeitalter des Vergnügens".2
An Überstimulation gewöhnt: wenn das Gehirn süchtig und zugleich unempfindlich auf den Neurotransmitter für Vergnügen ist
Wichtig dabei: hält man das "Loch" oder Missbefinden nach sporadischer Exposition für einen Moment aus, vergeht dieses Gefühl und die Neutralität im Gehirn wird wiederhergestellt. Aber es gibt eine natürliche Tendenz, dem entgegenzuwirken, indem wir zur Quelle des Vergnügens zurückkehren, um eine weitere Dosis zu bekommen. Chronischer Übergebrauch kann die Dopamin-Reizschwelle resetten. Diese Dopamin-Erschöpfung entspricht dem klinischen Bild einer Depression. Neben Ängsten, Dysphorie, Reizbarkeit und Schlaflosigkeit sind die Gedanken der betroffenen Person stark davon beherrscht, endlich wieder das zu tun, was ihnen kurzfristige Befriedigung verschafft ("craving").
Dopamin wird eine zentrale Rolle für etliche menschliche Schwächen zugeschrieben. Etwas, was wir eben noch mit Feuereifer verfolgt haben und auf das all unsere Gedanken gerichtet waren, wird plötzlich uninteressant, sobald wir es erreicht haben. Diesem Neurotransmitter scheint nie etwas genug, immer das Neue oder das Nächste erscheint wichtiger oder verlockender als das, was wir bereits haben und manche sind bereit, für einen kurzen Kick sehr viel aufs Spiel zu setzen, argumentiert auch Dr. Daniel Z. Lieberman, Psychiater und Professor für Psychiatrie und Verhaltenswissenschaften an der George Washington University (Koautor von "Ein Hormon regiert die Welt").3
Doch was heute eine Vulnerabilität darstellt, war ursprünglich ein fein abgestimmtes Gleichgewicht, das sich im Gehirn aus gutem Grund über Millionen von Jahren entwickelt hat, in denen Vergnügungen rar und Gefahren allgegenwärtig waren. Das Problem ist, dass wir heute nicht mehr in dieser Welt leben – Menge, Vielfalt und Potenz der stark stimulierenden Substanzen und Aktivitäten waren noch nie so groß wie heute, erklärt Lembke.2
Was ist heute anders?
Neben süchtig machenden Substanzen wie Zucker und Opioiden verweist sie auf die vergleichsweise neue Klasse von elektronischer Überstimulation und Süchten, die es bis vor etwa 20 Jahren noch nicht gab: Sofortnachrichten, soziale Medien, Surfen im Internet, Online-Shopping oder Glücksspiel. Diese digitalen Produkte haben eine immense Alltagsrelevanz und sind so konzipiert, dass sie süchtig machen. Mit blinkenden Lichtern, spannenden Klängen und Likes versprechen sie immer größere Belohnungen, die nur einen Klick entfernt sind. Viele in die sozialen Medien integrierte Algorithmen, wie unendliches Scrollen oder soziales Reziprozitäts-Hacking, sind aus neurowissenschaftlicher Sicht darauf abgestimmt, unsere menschlichen Eigenheiten auszunutzen, schreibt Lembke in einem Beitrag für das 'Aspen Brain Institute'.2 Der normale Alltag scheint vielen dagegen weniger aufregend, gar uninteressant, zäh oder bedeutungslos zu sein.
Obwohl wir also einfachen Zugang zu einem Überfluss an Informationen, Unterhaltung und Dopamin haben, ohne überhaupt das Haus verlassen zu müssen, kämpfen mehr Menschen als je zuvor mit innerer Leere und Freudlosigkeit. Die Global Burden of Disease-Studie ergab, dass die Zahl neu entwickelter Depressionen zwischen 1990 und 2017 weltweit um 50% gestiegen ist, wobei die höchsten Zuwächse auf Regionen mit dem höchsten Einkommen entfielen, insbesondere in Nordamerika.2
"Es ist schwer, Ursache und Wirkung zu erkennen, wenn wir auf der Jagd nach Dopamin sind. Erst nachdem wir eine Pause von der "Droge" unserer Wahl eingelegt haben, sind wir in der Lage, die wahren Auswirkungen des Konsums auf unser Leben zu erkennen", schreibt Lembke.2 Häufig bittet sie daher Patienten, die davon betroffen sind, einen Monat lang auf ihre Quelle der Dopamin-Erschöpfung zu verzichten, damit das Gehirn das Dopamin-Gleichgewicht wiederherstellen kann. Hierzu gehört auch, andere Aktivitäten zu suchen, die nicht allein abhängig von dem Belohnungsgefühl über Dopamin sind, beispielsweise Sport, soziale Anbindung, Meditation oder Kunst und Musik.
Fazit für die Praxis: Dopamin in Schach halten bedeutet Zufriedenheit und Stabilität finden
Für Betroffene empfiehlt sie einen besonders zurückhaltenden oder wachsamen Umgang mit den Aktivitäten, die für sie am schwersten zu kontrollieren sind. Ein solches "Dopamin-Fasten" kann für einen Computer-Süchtigen beispielsweise darin bestehen, die Gaming-Zeiten streng zu limitieren, Arbeits- und Freizeit-Laptop zu trennen und auf besonders potente Spiele (solche, von denen derjenige genau weiß, dass er nicht wieder aufhören kann, wenn er einmal anfängt) zu verzichten. Wer auf neurobiologischer Ebene verstanden hat, warum er das erlebt, dem wird es in sehr vielen Situationen auffallen.
"Es ist bekanntermaßen schwierig, den [...]Konsum zu reduzieren, denn zunächst kippt das Gleichgewicht zwischen Lust und Schmerz im Gehirn auf die Seite des Schmerzes, sodass wir uns unruhig und launisch fühlen. Aber wenn wir es lange genug durchhalten, sind es die Vorteile eines gesünderen Dopaminhaushalts wert. Unser Verstand ist weniger mit dem Suchtdruck beschäftigt, wir sind eher in der Lage, im Augenblick präsent zu sein, und die kleinen unerwarteten Freuden des Lebens sind wieder erfüllend", weiß Lembke anhand der Fallgeschichten ihrer zahlreichen Patienten zu berichten.1,2
Weitere Informationen aus der Neurologie:
- Anna Lembke, MD - Dopamine Nation. Anna Lembke, MD https://www.annalembke.com.
- Digital Addictions Are Drowning Us in Dopamine – Anna Lembke, M.D. Aspen Brain Institute https://aspenbrain.institute/blog-posts/digital-addictions-are-drowning-us-in-dopamine.
- Lieberman, D. Z. & Long, M. E. Ein Hormon regiert die Welt: Wie Dopamin unser Verhalten steuert - und das Schicksal der Menschheit bestimmt. (Riva, 2018).
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