Könnte das Epstein-Barr-Virus für ME/CFS ähnlich bedeutsam sein wie für MS?

Zunehmende Evidenz bekräftigt die Bedeutung von EBV für die Pathogenese der MS und EBV-spezifische T-Zell-Therapien sorgten mit vielversprechenden Ergebnissen für Aufmerksamkeit. Wie sieht es für ME/CFS aus?

Mangelndes Forschungsinteresse an ME/CFS?

In der MS-Forschung hat sich diesbezüglich viel getan, sodass EBV inzwischen als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Erkrankung verstanden wird. Wie wir in früheren Beiträgen zu MS und EBV skizzierten, produziert EBV Proteine (EBNA1), die einem Protein in der Myelinscheide ähneln (GlialCAM). Wenn das Immunsystem Antikörper bildet, um das Virus zu bekämpfen, wird das Myelin mit angegriffen ("bystander damage"). Spannende Erfolge durch EBV-spezifische T-Zell-Therapien bei MS-Kranken untermauerten die Bedeutung des Zusammenhangs weiter.

Der Kommunikationsmanager der ME Association schrieb dazu:

"Es ist faszinierend, von den Fortschritten zu lesen, die bei MS gemacht werden, und ich hoffe, dass sie zu wirksamen Behandlungen führen, aber als jemand, der seit 22 Jahren an ME/CFS leidet, finde ich es unglaublich frustrierend, dass bei meiner Krankheit – die eine größere Auswirkung auf die körperliche Funktion und die Lebensqualität haben kann und die viel häufiger sein könnte – keine vergleichbaren Fortschritte gemacht wurden. Warum sind die Forscher nicht so sehr an ME/CFS interessiert?"2

Zusammenhänge zwischen ME/CFS und MS

"Wir brauchen Antworten!"

ME/ CFS ist eine schwere neuroimmunologische Multisystemerkrankung weitgehend unbekannter Ätiologie. Hieraus resultiert das Fehlen von effektiven Therapien und von Biomarkern oder Signaturen, die bei der Diagnose helfen könnten.3 In 85–90% der Fälle ist Neuroinflammation vorhanden.4 Nach aktuellem Verständnis führen Risikofaktoren aus der Umwelt (Infektionen) und Stress im Zusammenspiel mit einer genetischen Prädisposition zu den neuroendokrinen, metabolischen und immunologischen Störungen. Betroffene leiden neben chronischer Fatigue unter Belastungsintoleranz oder Post-Exertional Malaise (Zunahme der Symptomatik nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung mit ausgeprägter Schwäche, Muskelschmerzen, grippalen Symptomen und Verschlechterung des Allgemeinzustands), kognitiver Beeinträchtigung, Schlafstörungen sowie orthostatischer Intoleranz.

Ein Review von 2021 stellt fest: "Initiale Studien deuteten auf eine mögliche Rolle der humanen Herpesviren, insbesondere des EBV, hin, aber inkonsistente und widersprüchliche Daten führten zu der irrigen Annahme, dass diese Viren keine Rolle bei dem Syndrom spielen. Neue Studien mit fortschrittlicheren Ansätzen haben nun gezeigt, dass spezifische Proteine, die von EBV kodiert werden, zu den immunologischen und neurologischen Anomalien beitragen könnten, die bei einer Untergruppe von ME-Erkrankten auftreten."3 

Neue mechanistische Studien befassen sich mit dem kausalen Zusammenhang

Eine Ende Juni 2022 erschienene, wichtige Studie konnte zeigen, dass ME-Erkrankte vermehrt IgG gegen eine Polyarginin-Region im EBV (EBNA6_0070) bilden."Das Immunsystem einiger Erkrankter schwankt zwischen einem Aktivierungszustand, der versucht, latente Herpesvirus-Infektionen zu kontrollieren, und der Suppression schädlicher Autoimmunreaktionen durch die Aktivierung regulatorischer T-Zellen."1 Die IgG-Antikörperreaktivität gegen EBV könnte man sich als diagnostischen Marker zunutze machen, was nun im Rahmen einer Follow-Up-Studie untersucht wird.

Eine weitere Studie aus dem gleichen Monat liefert weitere Hinweise, dass HHV6- und EBV-Enzyme (dUTPasen) bei einer Untergruppe von Menschen mit ME/CFS eine pathophysiologische Rolle spielen könnten. Zu beobachten war eine hierdurch abnorme Aktivität der Keimzentren (verstärkte Differenzierung follikulärer T-Helferzellen) und veränderte extrafollikuläre Antikörperreaktionen.5

Enzyme aus Herpesviren lösen bei vielen Erkrankten neuroinflammatorische Reaktionen aus

Letztgenannte Entdeckung passt zusammen mit den Ergebnissen einer früheren Arbeit, die bei 31–53% der Erkrankten gleichzeitig Antikörper gegen mehrere von humanen Herpesviren kodierte dUTPasen und/oder humane dUTPasen nachweisen konnte.4
Eine kleine Subgruppe hatte prolongierte und signifikant erhöhte neutralisierende Antikörper gegen das EBV-dUTPase-Protein im Serum, was mit den ME/CFS-Symptomen korrelierte. Die EBV-dUTPase veränderte in vitro und in vivo die Expression von Genen, die an der Aufrechterhaltung der Integrität der Blut-Hirn-Schranke beteiligt sind, die synaptische Plastizität (Schmerzsynapsen) modulieren sowie den Tryptophan-, Dopamin- und Serotoninstoffwechsel beeinflussen.
"Wir müssen uns vom Gedanken lösen, dass nur der akute Infekt Probleme macht, und endlich intensiv forschen", twittert Neurologe Dr. Michael Stingl aus Wien zu den neuesten Erkenntnissen.6

Referenzen: 

  1. Sepúlveda, N. et al. Revisiting IgG Antibody Reactivity to Epstein-Barr Virus in Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome and Its Potential Application to Disease Diagnosis. Frontiers in Medicine 9, (2022).
  2. NYT Magazine: Epstein Barr Virus and Multiple Sclerosis | The ME Association. https://meassociation.org.uk/2022/02/nyt-magazine-epstein-barr-virus-and-multiple-sclerosis/ (2022).
  3. Ariza, M. E. Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: The Human Herpesviruses Are Back! Biomolecules 11, 185 (2021).
  4. Williams PhD, M. V., Cox, B., Lafuse PhD, W. P. & Ariza, M. E. Epstein-Barr Virus dUTPase Induces Neuroinflammatory Mediators: Implications for Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome. Clin Ther 41, 848–863 (2019).
  5. Cox, B. S., Alharshawi, K., Mena-Palomo, I., Lafuse, W. P. & Ariza, M. E. EBV/HHV-6A dUTPases contribute to myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome pathophysiology by enhancing TFH cell differentiation and extrafollicular activities. JCI Insight 7, (2022).