Die Arzt-Patienten-Kommunikation ist aus vielen Gründen fragil. Bei Erkrankungen, die schambehaftet sind, ist es oft besonders schwierig, das notwendige Vertrauen für ein offenes Gespräch herzustellen. Prof. Dr. Barbara Mangweth-Matzek ist Universitätsprofessorin an der Universitätsklinik für Psychiatrie II in Innsbruck und spricht über ein Thema, das eine Herausforderung für die Arzt-Patienten-Beziehung darstellt: Es geht um Essstörungen bei Männern und Frauen.
Eine sehr gute Frage. Ich würde sagen, es trifft beides zu. Interessanterweise sind die ersten klinischen Aufzeichnungen von anorektischen Patienten Männer gewesen im 16. Und 17. Jahrhundert, und zwar nicht nur einer, sondern mehrere. Trotzdem gibt es die klassische Meinung, dass Essstörungen primär weiblich sind. Das ist auch richtig, aber was sicherlich auch richtig ist, ist, dass nicht mehr nur Frauen dem Schönheitsideal ausgeliefert sind. Junge Männer und auch ältere Männer müssen genauso einem gewissen Ideal entsprechen, um nicht negativer Kritik ausgesetzt zu sein. Früher war das anders, da hat es genügt, einfach ein Mann zu sein, ganz egal, wie man ausgesehen hat. Hauptsache, man war ein Mann. Heute geht es schon auch darum, wie der Mann aussieht, und da muss man eben nicht nur schlank, sondern auch muskulös und fit sein.
Das Problem ist, dass Männer andere Formen haben, die versteckter sind. Bei Männern sind Essstörungs-Symptome unter anderem auch sehr in den sportlichen Bereich hinein verlagert. Und da Sport so gehypt wird, ist alles toll, was sportlich ist. Dass jemand Sport aber nur in Kompensation auf eine vorhergehende Essattacke ausübt und der ganze Leidensdruck, der damit assoziiert ist, wird nicht gesehen. Selbst die Menschen, die in dieser Maschinerie gefangen sind, würden nicht unbedingt von sich selbst denken, dass sie essgestört sind.
Dann gibt es aber auch die Gruppe der klassisch essgestörten Männer, die entweder eine Anorexie, Bulimie oder auch eine Binge-Eating-Störung haben, die von der Symptomatik her genauso ist wie bei Frauen. Essstörungen sind grundsätzlich schon gesellschaftlich stigmatisiert. Man kann heute viel besser sagen, dass man Panikattacken oder Angstzustände, oder auch eine Depression hat, als dass man eine Essstörung hat. Das ist nach wie vor etwas ganz Schwieriges. Bei der Anorexie geht das noch etwas besser, da die Betroffenen sich oft auch überlegen fühlen, da sie etwas schaffen, was andere nicht schaffen: nämlich von Luft zu leben. Bei der Bulimie ist es ganz schwer. Denn diese Menschen tun ja moralisch etwas Verwerfliches: sie konsumieren sehr viel Essen und erzwingen danach ein Erbrechen. Und alle Essstörungen, die in Richtung Übergewicht gehen, sind moralisch sowieso extrem verwerflich, weil sie einen Kontrollverlust bedeuten. Insofern sind Essstörungen stigmatisiert, und ein Mann mit Essstörungen zu sein, erst recht, denn das ist ja eine hauptsächlich weibliche Erkrankung. Und damit wird es den betroffenen Männern schon sehr schwer gemacht, sich dazu zu bekennen und behandeln zu lassen.
Da muss ich ausholen. Grundsätzlich muss ich sagen, wir sind leider immer noch in einem Zeitalter, wo betroffene Menschen sich immer noch dafür genieren müssen, dass sie psychisch krank sind. So als wäre es ein Makel oder eine Disziplin- oder Kontrolllosigkeit. Leider herrschen immer noch sehr viele Vorurteile diesbezüglich. Man hört immer wieder Sätze wie. "Der Mann ist alkoholabhängig, weil er sich nicht kontrollieren kann" oder "Die Frau ist zu dick, weil es ihr an Disziplin mangelt". Und das sind natürlich heftige Verurteilungen, mit denen sich Nicht-Betroffene als überlegen darstellen. Das ist deswegen so schlimm, weil es mit der Realität nichts zu tun hat und trotzdem eine so große Macht besitzt. Selbst im Gesundheitswesen gibt es noch immer Menschen, die sagen: "Jetzt reißen Sie sich doch mal zusammen, Sie müssen doch nicht so viel trinken". Oder wir hören von Eltern oder Ehemännern unserer essgestörten Patientinnen immer wieder: "Jetzt iss doch einfach normal, dann hast du das Problem gelöst." Es ist gesellschaftlich noch immer viel zu wenig bekannt, dass sich hinter psychischen Erkrankungen meistens ganz viel Leid und Traumatisierung befinden und dass das Symptom ein Mechanismus ist, um damit umgehen zu können, weil es ansonsten nicht aushaltbar ist.
Genau. Es ist natürlich viel einfacher zu sagen. "Reiß dich zusammen", denn dann bin ich ja nicht beteiligt. Wenn ich aber im Familienumfeld die Frage stelle, was da eigentlich los ist, dann könnte es ja durchaus sein, dass die Betroffene sagt: "Mama, weißt du was, du hast immer nur Freunde gehabt und nie auf mich geschaut, und du weißt gar nicht, dass deine Männer sich an mir vergangen haben. Ich hatte nicht den Mut, dir das zu sagen, weil ich nicht wollte, dass du wieder mit dem Trinken anfängst, wenn du das weißt". Das ist eine ganz typische Spirale. Unsere Patientinnen und Patienten sind sehr sensibel und haben häufig nicht die Kraft, über das Erlebte zu sprechen.
Im psychiatrischen Bereich können wir nicht davon ausgehen, dass uns sofort alles mitgeteilt wird. Ein Beispiel: Wenn ich Fußpilz habe, gehe ich zum Dermatologen und sage, dass ich Fußpilz habe. Wenn ich Bulimie habe, dann gehe ich nicht zu einem Arzt oder einer Ärztin und sage, dass ich Bulimie habe. Es gibt natürlich auch diese Gruppe von Menschen, die sich damit beschäftigt und ihre Erkrankung erkannt hat, aber für einen Großteil der Betroffenen ist es einfach schwierig darüber zu sprechen. Die wenigsten sagen ja: "Ich bin von meinem Vater vergewaltigt worden, und deshalb bin ich bulimisch." Denn es ist ja auch schambehaftet und mit gesellschaftlichem Druck verbunden, zuzugeben, dass so etwas in der Familie passiert ist. Grundsätzlich kann man also nicht davon ausgehen, dass man immer sofort erfährt, was das eigentliche Problem ist.
Die Allgemeinärztin und der Allgemeinarzt sind hier sicherlich die wichtigsten Schnittstellen. Denn diese kennen die Patientinnen und Patienten, im besten Fall schon sehr lange. Da sieht man dann Veränderungen. Und es ist besonders wichtig, diese als Personen wahrzunehmen und nicht als Krankheitsbild. Es ist leider in der Ärzteschaft noch immer weit verbreitet zu sagen: "Da kommt die Angststörung" und nicht, "da kommt Frau Meier". Wenn ich weiß, dass im Leben dieser Person gerade etwas passiert ist - eine Scheidung, ein Todesfall, Verlust der Arbeit, Krankheit eines Kindes -, dann kann ich mir auch die Frage stellen, wie die Person auf dieses Ereignis reagiert. Da ist viel Fantasie-Arbeit mit im Spiel. Grundsätzlich würde ich aber sagen, dass die Frage nach Essstörungen mit in die Anamnese gehört.
Es ist wichtig, die Fragen wertschätzend zu stellen. Damit vermittle ich den Betroffenen das Gefühl. "Ich darf das haben. Sie weiß, dass es das gibt, und ich bin nicht allein davon betroffen." So holt man die Menschen ab. Natürlich hat das auch etwas mit Wissen zu tun. Je mehr man über die Erkrankung weiß, desto klarer kann man auch fragen.
Es gibt viele Zugänge, mit denen etwas negativ verlaufen kann. Letztendlich geht es darum, dass diese Patientinnen und Patienten extrem sensibel sind. Einfach, weil sie merken, dass es um Themen geht, die gesellschaftlich schwierig sind. Man kann mit jedem über einen Autokauf reden oder diskutieren, aber nicht über die eigene Befindlichkeit. Wenn es einem nicht gut geht, dann ist das ganz, ganz schwierig. Und in der Kommunikation scheitert es im professionellen Kontext, sobald es eine abwertende Haltung gibt. Wenn die Ärztin oder der Arzt sagt: "Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie müssen Gewicht abnehmen, sonst müssen wir hier gar nicht weitermachen", dann mag das inhaltlich vielleicht stimmen, wenn es beispielsweise um Diabetes und Übergewicht geht, aber dieser Ton geht einfach gar nicht. Das ist genau die Art und Weise, wie Patientinnen und Patienten dann nicht in die Konfrontation gehen, sondern sich in sich zurückziehen, und das ist ganz schlimm. Dann haben sie wieder das Gefühl, schlecht und wertlos zu sein. Damit werden die depressiven Anteile verstärkt, die mit langjährigen Essstörungen einhergehen.
In der Gruppe der Essgestörten sind Männer immer noch die Ausnahme. Ein Faszinosum. Grundsätzlich kann man schon sagen, dass Männer etwas genießen, was Frauen nicht haben, nämlich das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Was die Symptomatik betrifft, kommt es darauf an, ob er seine Essstörung realisiert und Hilfe sucht oder nicht. In dem Moment, wo der Patient sich an uns wendet, weil er Hilfe sucht, machen wir keinen Unterschied mehr in der Therapie. Aber der Weg dahin ist sicher noch einmal schwieriger. Man kann es fast mit einem Coming Out vergleichen, wenn man darüber spricht, dass man eine Essstörung hat. Es bedeutet, dass man etwas hat, was man eigentlich nicht haben darf, und das ist mit extremem Stress verbunden.