Im Inneren der Psychiatrie zur Zeit des Nationalsozialismus

Was es für Menschen bedeutete, in einer psychiatrischen Einrichtung zur Zeit der NS-Besatzung behandelt zu werden, hat Ärztin und Medizinhistorikerin Dr. Lea Münch untersucht. Die rekonstruierten Lebensgeschichten zeigen die Sicht der Patienten.

NS-Gesetz zur Zwangssterilisation 

Am 14. Juli 1933 wurde das Gesetz zur "Verhütung erbkranken Nachwuchses" beschlossen und im Reichsgesetzblatt am 25. Juli abgedruckt:

“Die Reichsregierung hat das folgende Gesetz beschlossen, daß hiermit verkündet wird:
[...] Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden."

Wer unfruchtbar gemacht werden sollte, wurde im Weiteren aufgelistet: Als erbkrank Im Sinne des Gesetzes galten u.a. Menschen mit Erkrankungen wie Schizophrenie, angeborenem Schwachsinn, erblicher Blind- und Taubheit, körperlicher Missbildung, aber auch Menschen, die dem Alkoholismus verfallen waren. Auf dieser Grundlage wurden rund 400.000 Männer und Frauen zwangssterilisiert. 

Säuberung des Volkskörpers - Die Krankenmorde

Mit Kriegsausbruch konkretisierten sich die Pläne zur Tötung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen. In einer ersten Phase wurden ab dem Frühjahr 1939 bis 1945 mindestens 5.000 Kinder und Jugendliche bis 16 Jahren mit Behinderung durch die Verabreichung von Medikamenten und systematisches Verhungernlassen planmäßig ermordet. Ab August 1939 weitete man die Patientenmorde auf Erwachsene aus. Organisiert wurden die Krankenmorde dieser zweiten Phase von einer Hitler direkt untergeordneten Tarnorganisation, einer zentralen Behörde in der Tiergartenstraße 4 in Berlin-Charlottenburg (T4). Für die "Auslese" wurden die Anstaltsbewohner aller deutschen Heil- und Pflegeanstalten über Meldebögen systematisch erfasst. Anschließend wurden sie an die Behörde der T4 weitergeleitet, wo Gutachter über das Schicksal tausender Patienten entschieden. 

In sechs Tötungsanstalten starben 70.000 Menschen durch Vergasung. Die hinterbliebenen Angehörigen erhielten eine Todesurkunde mit erfundener Todesursache. Aufgrund zunehmender öffentlicher Unruhen und Proteste seitens der Kirche stellt man die Vergasung, auch als "Aktion T4" bekannt, 1941 wieder ein, aber nur zum Schein. Das Töten ging in dezentraler Form in verschiedenen Mordzentren weiter: über Vernachlässigung, gezielten Nahrungsmittelentzug, Injektionen oder überdosierte Beruhigungsmittel. In dieser Phase starben bis zum Kriegsende nochmals mindestens 100.000 Menschen. 

Die Anstalt Hadamar bei Limburg war eines dieser überregionalen Zentren. Der Name steht bis heute symbolisch für den Krankenmord – so wie Auschwitz für den Holocaust.

Die Geschichte einiger Patienten, die im annektierten Elsass auf unterschiedlichen Wegen mit der Psychiatrie in Kontakt kamen, hat Dr. Lea Münch akribisch untersucht.

esanum: Frau Dr. Münch, Sie haben Ihre zweite Dissertation im Bereich der Wissenschaftsgeschichte zur Institution der Psychiatrie im Elsass während des Nationalsozialismus geschrieben. Der genaue Titel lautet: "Innenansichten der Psychiatrie im Elsass zur Zeit des Nationalsozialismus. Lebensgeschichten zwischen Strasbourg und Hadamar". Warum haben Sie sich diesem Thema gewidmet? Welchen neuen Blick wirft ihre Arbeit auf diesen dunklen Abschnitt in der Geschichte der Psychiatrie?

Dr. Lea Münch: Es ist in der Tat so, dass die Forschungsliteratur zur Medizin des Nationalsozialismus, aber auch zur Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus, ganze Bibliotheken füllt. Allerdings gab es zwei eindeutige Desiderate. Einerseits beschäftigt sich meine Arbeit mit der Frage nach der psychiatrischen Versorgung im Elsass. Diese Grenzraumregion zwischen Deutschland und Frankreich wechselte immer wieder die nationale Zugehörigkeit. Nach dem Westfeldzug der Wehrmacht wurde die Region im Sommer 1940 völkerrechtswidrig annektiert. Zu diesem okkupierten Gebiet gab es bisher kaum Forschungen. Erst 2016 nahm eine internationale historische Kommission umfassende Forschungen zur Geschichte der Medizinischen Fakultät der "Reichsuniversität" Straßburg (1941-1944) auf. In diesem Rahmen ist auch meine Arbeit entstanden. Viel wichtiger war für mich aber die Tatsache, dass wir zwar viel über die NS-Psychiatrie wissen sowie über die Ereignisgeschichte der Krankenmorde, die dahinterstehende Ideologie und über die zu Tätern gewordenen Ärzt*innen. Über die Alltagsgeschichte, über die Patient*innen, wissen wir hingegen immer noch sehr wenig. Ihre Perspektiven und ihre Lebenswelten sind bisher in der Literatur stark unterrepräsentiert. Das wollte ich mit meiner Arbeit ändern. Deswegen liegt im Titel meiner Arbeit die Betonung auf der Perspektive von innen. Es geht mir darum, eine Geschichte der individuellen Krankheitserfahrungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen zu schreiben. Was bedeutete es in der nationalsozialistischen Psychiatrie Patient*in gewesen zu sein?

esanum: Für Ihre Arbeit haben Sie die Lebensgeschichten von unterschiedlichen Patienten, die in einer der drei psychiatrischen Einrichtungen im Elsass während der Okkupation behandelt wurden, anhand von verschiedenen Dokumenten und Quellen nacherzählt. Was konnte mit Hilfe der Patientengeschichten über das Funktionieren der psychiatrischen Institutionen im Detail herausgefunden werden? 

Dr. Lea Münch: Neben den Erfahrungen der Patient*innen hat mich interessiert, welche Bedeutung eine jeweilige psychiatrische Institution für die Betroffenen hatte. Die psychiatrische Uniklinik der sogenannten “Reichsuniversität” hatte eine ganz andere Funktion als die in der ländlichen Peripherie gelegenen Heil- und Pflegeanstalten. Zeichnete sich eine chronische Erkrankung ab, wurden die Patient*innen entweder nach Stephansfeld oder nach Hördt verlegt – so hießen die beiden Anstalten im Elsass. Diese Anstalten konnten für die sich dort lebenden Patient*innen unterschiedliche Bedeutungen haben. So war die Opernsängerin Luise Reuss verhältnismäßig lange in der Straßburger Klinik und wurde erst nach Kriegsende nach Stephansfeld verlegt. Für sie war die Anstalt lediglich eine Zwischenstation vor ihrer Entlassung. Die junge Ukrainerin Natascha Smoljarowa hingegen, die 1942 aus Charkiw ins Elsass zur Zwangsarbeit deportiert worden war, starb dort 1953 an Tuberkulose. Für sie wurde die Anstalt zur Endstation ihres kurzen Lebens. Sie starb vergessen an einem fremden Ort, wo niemand ihre Sprache sprach.

Damals zählte die Elektroschocktherapie nicht nur in NS-Deutschland zu den Standardtherapien, die bei einer Schizophrenie bis hin zu einer Depression häufig eingesetzt wurde

esanum: Können Sie noch weitere Beispiele nennen? 

Dr. Lea Münch: Die psychiatrische Klinik der "Reichsuniversität" in Straßburg war ein zentraler Anlaufpunkt für Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder Behinderung in der Region. Hier wurde eine umfangreiche Diagnostik durchgeführt, die neuen Patient*innen beobachtet und eine Therapie eingeleitet. Dabei konnte es sich um Beruhigungsmittel handeln oder die Patient*innen mussten im Rahmen der sogenannten Arbeitstherapie Aufgaben auf der Station übernehmen. Seit 1942 wurde zudem die Elektroschocktherapie eingeführt. Diese entsprach dem weit verbreiteten biologistischen Krankheitsverständnis, das auch der Klinikdirektor August Bostroem (1886-1944) teilte. Ein ambivalentes, aber oft wirksames Verfahren, das bis heute mit vielen Vorurteilen behaftet ist. Damals aber zählte es nicht nur in NS-Deutschland zu den Standardtherapien, die bei einer Schizophrenie bis hin zu einer Depression häufig eingesetzt wurden. Diese Behandlungsmethode gab es auch in den beiden elsässischen Anstalten. Im Gegensatz dazu hatten die Anstalten aber mehr die Funktion, chronisch kranke Menschen zu verwahren. 

esanum: Mit welchen psychischen Erkrankungen wurden damals Patienten in eine der psychiatrischen Anstalten eingewiesen? 

Dr. Lea Münch: Bei den Erkrankungen konnte es sich um den psychotischen Formenkreis handeln, wie z.B. eine Schizophrenie oder auch eine organische Psychose. Es gab aber auch Patient*innen mit einer klassischen Depression. Ich habe auch Patient*innen mit einer Alkoholabhängigkeit in den Quellen sehen können, die für einen Mindestaufenthalt von einem halben Jahr mit Arbeitstherapie in den Anstalten behandelt wurden, die häufig eine Gärtnerei und Landwirtschaft oder andere Werkstätten betrieben. Hinzu kam ein kleinerer Anteil mit der Diagnose Psychopathie, die einen Grenzbereich zwischen gesund und krank bezeichnete, also eine ganz andere Bedeutung hatte als das, was wir heute unter dem Begriff verstehen. Darunter wurde vor allem sozial unerwünschtes Verhalten subsumiert und stellte häufig ein sozial-moralisches Werturteil dar. Das konnte eine promiskuitive Frau sein, ein homosexueller Mann oder jemand, der aus Armut kleinere Diebstähle begangen hatte. 

Kategorisierung der Krankheit bestimmte den Lebenswert des Einzelnen.

esanum: Welche Patienten bzw. Erkrankungen galten in der NS-Gesundheitspolitik überhaupt als heilbar?  

Dr. Lea Münch: Im Nationalsozialismus waren psychiatrische Erkrankungen sehr stark mit einem erbbiologischen Paradigma verknüpft und eine Reihe an psychiatrischen Diagnosen galten als "Erbkrankheit". Von dieser Stigmatisierung war die gesamte Familie betroffen, was auch noch in der Nachkriegszeit spürbar war. Viel wichtiger als die Heilbarkeit war für die Lebensrealität der Menschen die Frage "Komme ich aus einer Anstalt noch einmal heraus?". Darüber entschied, ob sich die Krankheit in dem Sinne besserte, dass die Betroffenen nicht mehr pflegebedürftig waren. Es wurde sehr darauf geschaut, wie arbeitsfähig ein Patient im Sinne einer ökonomischen Brauchbar- und Verwertbarkeit innerhalb der Arbeitstherapie, aber auch für die Gemeinschaft war. Allein an dieser Kategorisierung hing letztendlich der Lebenswert des Einzelnen.

esanum: Was veränderte sich durch die Annexion des Elsass hinsichtlich der Führung und Versorgung in den psychiatrischen Einrichtungen für Ärzte und Patienten? 

Dr. Lea Münch: Wenn man nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaß, sondern als Elsässer oder Franzose galt, musste man, um als Arzt oder Ärztin im Elsass weiterhin tätig sein zu dürfen, schriftliche Loyalitätsbekundungen den deutschen Besatzern gegenüber abgeben. Wenn man es nicht tat, bekam man keine Arbeitserlaubnis. Das betraf auch die Beschäftigten der vormals französischen Université de Strasbourg – vom Professor bis zum einfachen Angestellten. Die gesamte Führungsriege, alle Professoren der dann zukünftigen deutschen Reichsuniversität, wurden neu berufen – alle hatten zumindest einen NSDAP-Mitgliedsausweis, manche waren auch in der SS. Der bereits erwähnte August Bostroem, ein renommierter Psychiater und Neurologe, der vorher in Leipzig gearbeitet hat, wurde Direktor der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik. Der bisherige Lehrstuhlinhaber Charles Buhecker entschied sich gegen die Kollaboration mit den Deutschen und eröffnete eine Privatpraxis in Straßburg. 

Erst im letzten Jahr zeigte sich das volle Destruktionspotential

esanum: Inwieweit wurden die Vorstellungen der NS-Gesundheitspolitik und Ideen zur Eugenik bzw. Rassenhygiene im Elsass in die Tat umgesetzt?

Dr. Lea Münch: Die Besonderheiten im Elsass hatten zur Folge, dass die idealtypische NS-Psychiatrie nicht in ihrer gesamten Dimension implementiert wurde. Es gibt eine Reihe von Unterschieden. So ist die Okkupationszeit von vier Jahren vergleichsweise kurz. Die weitgehende Evakuierung der elsässischen psychiatrischen Institutionen 1939 schaffte ein Vakuum, das eine zeitliche Aufschiebung der Verknappung von Ressourcen für psychiatrische Patient*innen mit sich brachte. Hinzu kommt, dass das Elsass bereits im Vorhinein vermutlich aus taktischen Gründen von der "Aktion T4" ausgenommen worden war. Das Gesetz zur Zwangssterilisation wurde erst im Sommer 1944 im Elsass gültig, sodass es praktisch nicht zur Anwendung kam. Erst im letzten Jahr der deutschen Okkupation 1944 zeigte sich das volle Destruktionspotential der NS-Psychiatrie. In der Anstalt Hördt starb in diesem Jahr wegen struktureller Vernachlässigung, Nahrungsentzug und möglicherweise auch Medikamentenüberdosierung einer von vier Patient*innen. Im Winter 1944 wurden 100 Männer aus den elsässischen Anstalten nach Hadamar deportiert, ein Zentrum der dezentralen Euthanasie. Dieser Todestransport, den nur drei Männer überlebten, ist sozusagen der Fluchtpunkt der "Integration" des Elsass in die NS-Psychiatrie.

esanum: Konnten Sie mithilfe der Patientenperspektive auch etwas über die “Arzt-Patienten-Beziehung” herausfinden?

Dr. Lea Münch: Das konnte sich sehr unterschiedlich gestalten. Beispielsweise habe ich in einer Krankenakte der bereits erwähnten Opernsängerin Luise Reuss (1911-2000) einen Briefwechsel zwischen dem behandelnden Klinikdirektor August Bostroem und ihrem Vater Wilhelm Reuss entdeckt, der zufälligerweise ein alter Bekannter des Klinikdirektors war. In den Briefen erwähnte Bostroem auch, dass die exzentrische Sängerin sich bei Visiten manchmal komisch benehme, sie spreche vom Tod ihrer Mutter, wolle aber keine genaue Auskunft darüber geben. Auf Nachfrage teilte der Vater in verklausulierter Form mit, dass die Mutter Mathilde in der Aktion T4 ermordet worden war. Dieses Wissen beeinflusste natürlich Bostroems Bild von seiner Patientin und ist konstitutiv für Luise Reuss eigenes Krankheitserleben. Luise Reuss verbleibt unter Bostroems Protektion in der Klinik. Ein anderes Beispiel ist der ärztliche Umgang mit der badischen Hausangestellten Mina Schabinger (1905-1944), die Mutter einer unehelichen Tochter war. Sie lebte seit über zehn Jahren in Anstalten und gelangte am Ende ins Elsass. Die Tochter war ihr bereits lange weggenommen und in einem Heim untergebracht worden. Die Familie stand stets hinter ihrem erkrankten Familienmitglied und in der Krankenakte sind über 30 Briefe und Postkarten an die jeweiligen Anstalten überliefert. Die Familie bat und drängte die Ärzt*innen im Elsass, ihre Tochter und Schwester mit nach Hause nehmen zu können. Doch die Ärzte reagieren mit Unverständnis. Diese Vorstöße wurden von der Ärzteschaft abgewiesen und die Familie unter dem diagnostischen Etikett des Schwachsinns – der zeitgenössische Begriff für eine geistige Behinderung – pathologisiert. 

Erzählt ohne affektiven Unterton

esanum: Im letzten Kapitel wird von Alphonse Glanzmann berichtet. Er war einer von drei elsässischen Überlebenden, die nach der Deportation in die Tötungsanstalt Hadamar 1946 ins Elsass zurückkehrten: Welchen Einblick bekommen wir in die psychiatrischen Praktiken mit Hilfe von Alphonse Glanzmann?

Dr. Lea Münch: Alphonse Glanzmann (1895-1970) war ein elsässischer Fabrikarbeiter. Er verlor früh seine Frau, wurde alkoholabhängig. Wegen seines psychotischen Verhaltens kam er 1942 in die Anstalt Hördt im Elsass und 1944 weiter mit dem Todestransport nach Hadamar. Er wurde wider Willen, als arbeitsfähiger Patient, zu einem Funktionsträger der routinierten Tötungsmaschinerie. In Hadamar hatte er Dinge gesehen und erlebt, die bei seiner Rückkehr niemand in seinem Umfeld nachempfinden konnte. In der Aufbruchsstimmung der Nachkriegszeit war kein Platz für ihn und er wurde erneut in eine elsässische Anstalt aufgenommen. Der dortige französische Psychiater, fragte ihn bei der Aufnahme, wie dies bei einer Anamnese üblich ist, nach seiner Lebensgeschichte. Alphonse berichtete von den Gräueln und darüber, dass es zu seinen täglichen Aufgaben gehörte, die Leichen seiner ermordeten Mitpatienten hinunter in den Leichenkeller zu tragen. Der Arzt notiert, Glanzmann erzähle dies "ohne affektiven Unterton." Glanzmanns Bericht nahm der Arzt als Ausgangspunkt für seine psychopathologischen Überlegungen und versuchte so, das Gesagte mittels seines institutionell geformten, routinierten ärztlichen Instrumentariums zu ordnen und zu fassen. Es blieb jedoch ein hilfloser Versuch, das Unvorstellbare zu assimilieren. 

esanum: Können Sie uns abschließend etwas zur Lage der Psychiatrie im Elsass nach 1945 berichten? Was erzählen uns die Überlieferungen über das Leben danach von Alphonse Glanzmann (1895-1970) und der Opernsängerin und Patientin Luise Reuss (1911-2000)?

Dr. Lea Münch: Alphonse Glanzmanns "Euthanasie"-Erfahrung in Hadamar blieb ein ungehörtes, unverständliches und fremdes Phänomen und wurde schlicht aus seiner Lebensgeschichte und Psychiatrieerfahrung ausgeblendet. Sein Wissen über den Alltag in einer Tötungsanstalt verschwand in seiner Krankenakte und hinter den Anstaltsmauern. Das gilt einerseits für den französischen Psychiater, aber auch für Alphonse Glanzmanns Familie. Es ist unbekannt, ob er bei seiner Rückkehr 1946 auch in seinem elsässischen Heimatdorf Lutterbach berichtete, was er gesehen hatte. Alphonse Glanzmann verbrachte den Rest seines Lebens bis zu seinem Tod 1970 in der Anstalt. Im Zuge meiner Recherchen konnte ich seine beiden Großnichten ausfindig machen, die noch heute in Lutterbach wohnen. Brigitte und Geneviève Glanzmann wussten lediglich von der Existenz eines Onkels in der Psychiatrie, aber nichts über seine Erfahrung der NS-"Euthanasie". Schockiert und betroffen über dieses jahrzehntelang gehütete Familiengeheimnis, machten sie sich auf Spurensuche und traten öffentlich als Zeitzeuginnen auf. 

Nach ihren Erfahrungen im Nationalsozialismus ging Luise nie wieder wählen

Bei Luise Reuss ist es anders. Sie wurde nach Kriegsende relativ rasch entlassen. Sie fand ein wenn auch prekäres Gleichgewicht und Wege, selbstbestimmt zu leben. Im Jahr 1946 kam ihr Sohn Volker zur Welt, mit dem ich ausführliche Zeitzeugengespräche führen konnte. Er berichtete mir, dass das Leben von Luise Reuss von der Ermordung ihrer Mutter überschattet wurde. Das Schicksal der Mutter beeinflusste die Beziehung zu ihrem Vater, dem sie seine opportunistisch-affirmative Haltung zu den Nationalsozialisten nicht verzeihen konnte. Aus Luise Reuss’ Erfahrungen resultierte auch ein generelles Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, das sie nie ablegte. Sie ging nie wieder wählen. Die Zwangstherapie mit Elektroschocks war ein weiterer Aspekt, der Luise Reuss’ persönliches Erleben psychiatrischer Praxis dominierte. Auch davon erzählte sie ihrem Sohn. Diese Erfahrung brannte sich tief in ihre Erinnerung ein und weist weit über die Spezifika der NS-Psychiatrie hinaus.

Die Buchpublikation von Dr. med. Dr. phil. Lea Münch ist für Ende des Jahres geplant. 

Den Bericht der historischen Kommission zur Geschichte der Medizinischen Fakultät der „Reichsuniversität“ Straßburg ist online verfügbar. Rapport de la Commission historique pour l’histoire de la Reichsuniversität Straßburg (RUS) - Université de Strasbourg (unistra.fr) Zudem existiert ein biographisches Wiki. Die Biografien ermöglichen einen Einblick in die individuellen Lebenswege der Ärzt*innen, Assistenzkräfte, Professoren ebenso wie der Patient*innen und Opfer in Verbindung mit der medizinischen Fakultät der Reichsuniversität Straßburg. Commission Historique (unistra.fr)

Kurzbiographie zu Dr. Lea Münch

Dr. med. Dr. phil. Lea Münch ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschung und Lehre an der Medizinischen Fakultät der Otto-von Guericke-Universität Magdeburg tätig. Ihr aktuelles Habilitationsprojekt beschäftigt sich mit der Erfahrungsgeschichte der Intensivmedizin und -pflege. Weitere Informationen finden Sie hier.

Quellen: