Es wird von der Verantwortung und dem Entscheidungswillen der Staats- und Regierungschefs weltweit abhängen, ob das Ziel der Vereinten Nationen, dass AIDS ab 2030 keine Bedrohung mehr für die öffentliche Gesundheit darstellt, erreichbar ist. Der am Montag im Vorfeld der Internationalen AIDS-Konferenz in München von UNAIDS vorgelegten Report “The Urgency of Now: AIDS at a Crossroads”, der aktuelle Daten bis 2023 enthält, zeigt, dass das Ziel, AIDS in diesem Jahrzehnt zu beenden, in “greifbarer Nähe” liegt. Dazu befinde sich die Welt allerdings nicht auf dem erforderlichen Kurs. Ein Viertel der 39,9 Millionen Menschen, die weltweit mit HIV leben, erhält keine Behandlung. Ebenso werde die Verpflichtung der Staats- und Regierungschefs, die Zahl der jährlichen Neuinfektionen 2025 auf unter 370.000 zu senken, weit verfehlt: 2023 war die Zahl mit 1,3 Millionen mehr als dreimal so hoch.
Die enormen Fortschritte in der Prävention und Therapie von HIV und AIDS in den vergangenen 40 Jahren haben es möglich gemacht, das Virus so weit zu supprimieren, dass von infizierten Menschen keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht. In jüngster Zeit werden vereinzelt Heilungserfolge berichtet. Bei der Umsetzung der AIDS-Strategie 95-95-95 ist die Welt bis 2023 vorangekommen:
Zwar steigt im Moment noch die Zahl der Menschen (2023: 39,9 Millionen), die mit HIV leben, doch der Anstieg flacht sich ab. Denn die Zahl der Neuinfektionen sinkt: von 2,1 Millionen in 2010 auf 1,3 Millionen in 2023. Die Zahl der AIDS-bedingten Todesfälle hat sich seit 2010 auf 630.000 mehr als halbiert. Die Zahl der Personen, die Zugang zu einer retroviralen Therapie haben, ist von 7,7 auf 30,7 Millionen gestiegen.
"Der Weg, AIDS zu beenden, ist kein Mysterium", so UNAIDS-Generalsekretärin Winnie Byanyima. "Es ist eine politische und finanzielle Entscheidung". Sie sieht eine klare und dringende aktuelle Verantwortung der Staats- und Regierungschefs.
Zu einem wachsenden Risiko, das Ziel zu verfehlen, ist das sinkende Budget aufgrund von Inflation und Wirtschaftskrisen geworden. Für die besonders hart betroffenen Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen sind die Budgets seit 2020 von 21,5 kontinuierlich auf 19,8 Milliarden Dollar gesunken. Notwendig wären 29,3 Milliarden Dollar, sodass die jährlich zu schließende Finanzlücke bei 9,5 Milliarden Dollar liegt und weiter steigen könnte.
Ebenfalls wesentlich in der Hand politischer Entscheidungsträger liegen aber auch das Ausmaß an Kriminalisierung, Diskrimierung und Stigmatisierung von Homo- und Bisexuellen, trans* Menschen und Sexarbeitern sowie Drogenabhängigen. Diese Gruppen sind weit überdurchschnittlich mit HIV infiziert: Während die weltweite Prävalenz in der Bevölkerung zwischen 15 und 49 Jahren bei 0,8 Prozent liegt, beträgt sie bei homosexuellen Männern und MSM 7,7 Prozent, bei Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern 3 Prozent, bei trans* Personen 9,2 Prozent und bei Drogenabhängigen 5 Prozent. Während weltweit 44 Prozent aller Neuinfektionen auf Frauen entfallen, sind es in den Subsahara-Regionen Afrikas 52 Prozent. Ursächlich sei hier ausgeprägte sexuelle Gewalt der Auslöser für das umgekehrte Verhältnis.
Den möglichen Einfluss radikaler islamischer Ausprägungen sowie der ultrareaktionären russischen Orthodoxie auf Gesellschaft und Politik hinsichtlich der Stigmatisierung und Kriminalisierung von Homosexuellen und trans* Menschen sowie der Diskriminierung von Frauen zeigt sich anhand der Daten für die Region Zentralasien und Osteuropa – mit Russland als dem bevölkerungsreichsten Land und den zentralasiatischen Staaten zwischen Russland und China, allesamt autoritär regiert. Während in allen Weltregionen zwischen 2010 und 2013 die Zahl der AIDS-assoziierten Todesfälle um 51 Prozent gesunken ist, stieg sie in Zentralasien und Osteuropa um 34 Prozent. In dieser Weltregion erhalten nur 50 Prozent der Menschen mit HIV eine antiretrovirale Therapie, global sind es 77 Prozent. Auch im Nahen Osten und Nordafrika erhalten nur 49 Prozent der mit HIV Infizierten eine antiretrovirale Therapie. In beiden Problemregionen besteht die weltweit größte Finanzlücke zur medizinischen Bekämpfung von HIV.
Es sind also im wesentlichen politische, gesellschaftliche und ökonomische Entscheidungen, von denen es abhängt, ob HIV und AIDS langfristig ausgerottet werden können. Allein der Impakt einer vollständigen Finanzierung notwendiger Präventions- und Therapieprogramme ist beachtlich: Während ausgehend von 39,3 Millionen weltweit infizierter bei persistierender Finanzlücke die Zahl der Infizierten 2040 45,3 Millionen, 2050 dann 46,4 Millionen erreichen würde, könnte deren Zahl bei hinlänglichen Budgets auf 33,8 Millionen im Jahr 2040 und auf 28,8 Millionen in 2050 sinken. Die Wohlfahrtsgewinne durch langfristig ersparte Behandlung und vor allem durch gewonnene Arbeitsproduktivität jüngerer Menschen wären beachtlich und bedeuteten einen beträchtlichen Return on Investment, argumentiert UNAIDS.