"Wir dürfen nicht zulassen, dass Lücken in der Versorgung im ländlichen Raum und in ärmeren Stadtteilen entstehen. Am wichtigsten ist dabei die Sicherung der hausärztlichen Versorgung, in der schon jetzt rund 5000 Arztsitze nicht besetzt sind."
Mit diesen Worten begründete Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am Mittwoch nach der Kabinettssitzung den Beschluss der Bundesregierung über das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz, zu dem die parlamentarischen Beratungen noch vor der Sommerpause starten sollen.
Kernstück des Gesetzes ist die Entbudgetierung des hausärztlichen Honorars und eine umfassende Reform des Vergütungssystems.
Der Bewertungsausschuss hat danach den Auftrag, gemäß dem neugefassten Paragraf 87 SGB V binnen sechs Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes eine Versorgungspauschale für Patienten über 18 Jahre zu beschließen, die wegen einer chronischen Erkrankung, die einer kontinuierlichen Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel bedarf und keinen intensiven Betreuungsbedarf begründet; sie kann einmal jährlich abgerechnet werden. Diese Pauschale wird unabhängig von der Zahl und Art der Kontakte gezahlt, darf aber betreffenden Zeitraum nur von einer Praxis abgerechnet werden. Wiederholungsrezepte oder AU-Bescheinigungen können demnach auch nach telefonischem oder telemedizinischem Kontakt ausgestellt werden. Die Versorgungspauschale soll so ausgestaltet werden, dass sie weder zu Minder- noch zu Mehrausgaben bei den Kassen führt.
Diese Regelung soll vor allem dazu führen, dass Hausärzte zeitlich entlastet werden. Ziel ist, die insgesamt hohe Kontaktdichte in Deutschland – über eine Milliarde-Patienten-Arzt-Kontakte – deutlich herunterzufahren, wie Lauterbach betonte, um damit Raum für schwerer erkrankte Patienten zu schaffen.
Die Abrechnung einer Versichertenpauschale ist ausgeschlossen. Die Versorgungspauschale ersetzt auch alle weiteren im EBM bestehenden Pauschalen oder Zuschläge, die bei der Behandlung eines Patienten mit chronischer Erkrankung bislang abrechenbar waren, insbesondere Chroniker-Pauschalen. Neben der Versorgungspauschale sind die erbrachten Einzelleistungen sowie die Zuschläge nach Kapitel 37 des EBM weiterhin abrechnungsfähig. Der Bewertungsausschuss kann die Versorgungspauschale in Abhängigkeit von unterschiedlichen Behandlungsbedarfen auch staffeln.
Ein weiteres neues Element in der hausärztlichen Vergütung ist eine Pauschalvergütung zur Erfüllung der hausärztlichen Grundversorgung und die Voraussetzungen dafür durch Paragraf 87 Absatz 2 SGB V. Diese Vorhaltepauschale wird insbesondere gezahlt für typische hausärztliche Leistungen wie Hausbesuche und Pflegeheimbetreuung, bedarfsgerechte Praxisöffnungszeiten, eine Mindestanzahl von Versicherten sowie die regelmäßige Nutzung der Telematikinfrastruktur. Der relevante Abrechnungszeitraum muss mit dem der Versorgungspauschale übereinstimmen. Der Bewertungsausschuss muss innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes über diese Pauschale entscheiden. Die Pauschale kann in Abhängigkeit vom Ausmaß der Erfüllung der Voraussetzungen in Stufen festgelegt werden. Mehr- oder Minderausgaben für die Kassen sollen durch diese Pauschale nicht entstehen. Die bisherige Vorhaltepauschale nach der Leistungsziffer 03040, die von bislang von jedem Hausarzt abgerechnet werden kann, wird durch die neue Pauschale ersetzt und entfällt. Somit kann es unter Hausärzten zu Umverteilungseffekten kommen. Die Vorhaltepauschale gilt nicht für Kinder- und Jugendärzte.
Einen besonderen Anreiz, dass Ärzte sich künftig für eine Tätigkeit in der hausärztlichen Versorgung entscheiden, sieht das Bundesgesundheitsministerium in der Entbudgetierung der hausärztlichen Vergütung. Dazu werden mit dem neu gefassten Paragraf 87a Absatz 3c neue Regeln für die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung geschaffen. Dazu werden die Leistungen der allgemeinen hausärztlichen Versorgung einschließlich der in Zusammenhang mit diesem Versorgungsbereich erbrachten Hausbesuchen entbudgetiert und damit von mengenbegrenzenden oder honorarmindernden Maßnahmen der MGV und der Honorarverteilung ausgenommen. Das Prinzip ist das gleiche wie schon bei der Entbudgetierung der pädiatrischen Vergütung. Alle nach sachlich-rechnerischer Prüfung durch die KVen anerkannten Leistungen des hausärztlichen Versorgungsbereichs müssen danach von den Krankenkassen voll entsprechend der Euro-Gebührenordnung refinanziert werden. Somit geht die Entbudgetierung für die Hausärzte nicht zu Lasten anderer Arztgruppen. Gleichwohl wird auch in Zukunft für jedes Jahr prospektiv eine weiterentwickelte spezielle Hausarzt-MGV vereinbart. Überschreitungen führen allerdings nicht zu Kürzungen von festen Vergütungen sachlich-rechnerisch anerkannter Leistungen. Vielmehr dient die MGV künftig dazu, im Fall zu wenig abgerechneter Leistungen, den übrig gebliebenen Betrag für die Vereinbarung von Zuschlägen zur Förderung der hausärztlichen Versorgung zu nutzen. Von dieser Möglichkeit muss bei einer Unterschreitung der MGV zwingend Gebrauch gemacht werden. Wie viel die einzelnen Kassen dazu beisteuern müssen, muss der Bewertungsausschuss entscheiden.
Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf wird ein weiteres Ärgernis für alle Ärzte weitgehend abgeschafft: der Arzneimittelregress im Einzelfall. So wird die Bagatellgrenze, ab der eine Kasse eine Einzelfallprüfung einleiten kann, auf 300 Euro festgesetzt – die meisten der oft zeitraubenden Prüfungen könnten damit entfallen.
Durch die Neugestaltung des Honorarsystems, insbesondere aber auch durch die Möglichkeiten der Telemedizin, die mit dem schon beschlossenen Digitalgesetz erweitert wurden, erwartet Lauterbach eine erhebliche Erleichterung und Flexibilisierung für die Ausübung des Arztberufs. Diejenigen Teile der Arbeit, die künftig nicht mehr eines unmittelbaren persönlichen Kontakts mit dem Patienten bedürfen, könnten dann auch von Ärzte via Telemedizin ortsunabhängig und von zu Hause aus erbracht werden – insbesondere für Ärztinnen, deren Anteil bei den Berufsanfängern bei inzwischen rund 60 Prozent liegt, könnte dies eine erhebliche Arbeitserleichterung sein.
Die KBV sieht im Kabinettsentwurf einige im Vergleich zum Referentenentwurf positive Elemente: So seien bürokratische Anforderungen an die geplanten Versorgungs- und Vorhaltepauschalen gestrichen worden. Die Entbudgetierung für die Hausärzte wird insgesamt begrüßt.
Der Hausärzteverband äußerte sich erleichtert, dass das über Monate diskutierte Gesetz nun mit dem Kabinettsbeschluss eine wichtige Hürde genommen hat. Die stellvertretende Bundesvorsitzende Professor Nicola Buhlinger-Göpfarth kritisierte jedoch, dass die ursprünglich vorgesehene verpflichtende Zahlung eines Bonus an Versicherte, die die hausarztzentrierte Versorgung wählen, zugunsten eines freiwillig zwischen den Vertragspartnern der HzV zu vereinbarenden Bonus ersetzt wurde. Damit sei die Chance für eine konsequente Steuerung der Versorgung verpasst worden. Lauterbach hatte zur Begründung dafür auf Ergebnisse der Verhandlungen mit dem Bundesfinanzministerium hingewiesen.