Kinderarzneimittel, Onkologika, Antidiabetika: Paradigmenwechsel beim Festbetragssystem
Bundesgesundheitsminister Lauterbach reagiert auf aktuelle Versorgungsengpässe und ordnet die Aufhebung der Festbeträge sowie eine 50-prozentige Preisanhebung an.
Ökonomierung: auch in Arzneimittelverorgung zu weit gegangen
"Wir haben es mit der Ökonomierung auch in der Arzneimittelversorgung mit patentfreien Medikamenten übertrieben. Die Discounter-Politik hat die Arzneimittelversorgung kontinuierlich über Jahrzehnte verschlechtert."
Mit diesen Worten hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am Morgen des 20.12.2022 Eckpunkte für eine grundlegende Veränderung des Festbetrags- und Rabattsystems für versorgungskritische Arzneimittel – Kindermedikamente, Onkologika und Antidiabetika – angekündigt. Weitere Arzneimittelgruppen können in die Neuregelung einbezogen werden.
Anlass sind die aktuellen Versorgungsengpässe bei Ibuprofen und Paracetamol in Saftform, die für Kinder geeignet sind. Für diese Arzneimittel gelten keine gesonderten Festbeträge, die den höheren Herstellungsaufwand für kindgerechte Darreichungsformen berücksichtigen.
Teile von Maßnahmenpaket sollen rasch greifen
Geplant ist ein umfangreicheres Maßnahmenpaket, von dem Teile allerdings wohl rasch greifen sollen. Die geplanten Schritte im Einzelnen:
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Höhere Preise für Kinderarzneimittel: Der Beirat zu Liefer- und Versorgungsengpässen beim Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArM) erstellt eine Liste von Arzneimitteln, die für die Kinderversorgung erforderlich sind. Für diese Arzneimittel dürfen zukünftig keine Rabattverträge geschlossen und keine Eingruppierung in Festbetragsgruppen vorgenommen werden. Die bestehenden Festbeträge werden um 50 Prozent erhöht. Gibt es keine Festbeträge, dann gilt eine Ausnahme vom Preismoratorium: einmalig dürfen Hersteller die Preise um 50 Prozent erhöhen. Die Mehrkosten müssen die Kassen für Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr und für Jugendliche mit Entwicklungsstörungen bis zum 18. Lebensjahr übernehmen.
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Stabilisierung der Lieferketten, Förderung der Produktion in der EU: Bei Rabattausschreibungen nach Paragraf 130a Absatz 8 SGB V muss der Produktionsstandort berücksichtigt werden. Die Kassen müssen bei jeder Ausschreibung ein zusätzliches Los nach dem Zuschlagskriterium "Anteil der Wirkstoffproduktion in der EU" vergeben. Dies soll zunächst für onkologische Arzneimittel und Antibiotika gelten. Weitere Wirkstoffe können hinzukommen, wenn der BfArM-Beirat dies empfiehlt. Für rabattierte Arzneimittel wird zudem eine vertraglich vereinbarte mehrmonatige versorgungsnahe Lagerhaltung vorgeschrieben.
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Förderung der Angebotsvielfalt: Sind in einer Festbetragsgruppe nur noch wenige Anbieter vertreten, prüft der Beirat die Versorgungslage und kann bei sich abzeichnendem Versorgungsengpass empfehlen, den Festbetrag um 50 Prozent anzuheben oder die Festbetragsgruppe aufzulösen. Im letzteren Fall darf der Hersteller den Preis einmalig um 50 Prozent erhöhen.
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Zuzahlungsbefreiung: Bislang gilt: Liegt ein Preis um mehr als 30 Prozent unter dem Festbetrag (Preisgrenze), dann sind Patienten von Zuzahlungen befreit. Dieser Abstand soll nun auf 20 Prozent verringert werden.
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Vereinfachter Austausch in Apotheken: Für Arzneimittel, bei denen der BfArM-Beirat eine kritische Versorgungslage festgestellt hat, werden die vereinfachten Austauschregeln nach Paragraf 1 Absatz 3 der SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung verstetigt. Ist eine Rücksprache mit dem Arzt dazu erforderlich, wird dies dem Apotheker mit 50 Cent vergütet.
- Kontinuierliche Marktbeobachtung: Der Beirat entwickelt Kriterien für sich abzeichnende Versorgungsengpässe und Marktverengung auf der Grundlage kontinuierlicher Marktbeobachtung bei versorgungskritischen Arzneimitteln. Auf Basis von Beiratsempfehlungen kann das Bundesgesundheitsministerium weitere Wirkstoffe und Indikationen als Ausnahmen von Festbeträgen und Rabattverträgen bestimmen.
Mit Erleichterung reagierte der Branchenverband Pro Generika:
"Das Bundesgesundheitsministerium hat endlich erkannt, dass das Hauptsache-Billig-Pinzip bei Generika die Versorgung destabilisiert hat. Es ist gut, in einzelnen Bereichen den extremen Kostendruck zu lockern. Damit geht es an die Wurzeln des Problems"
Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika
Eine Steigerung der Produktion und der Ausbau von Produktionskapazitäten in Europa würde aber Monate oder sogar Jahre dauern.
Zusätzliche Informationen zum Beschluss
Der BfArM-Beirat für Lieferengpässe
- Rechtsgrundlage ist Paragraf 52b Absatz 3b des Arzneimittelgesetzes
- Dem Beirat gehören neben Vertretern des Bundesinstituts für Arzneimittel auch Vertreter des Paul-Ehrlich-Instituts und des Bundesgesundheitsministeriums an.
- Ferner vertreten sind die Ärzteschaft durch ihre Arzneimittelkommission und Fachgesellschaften, die Apothekerschaft sowie die Verbände der Arzneimittelindustrie und des Großhandels, der GKV-Spitzenverband und die BAG Selbsthilfe als Patientenvertretung.
Die Preislogik auf dem Generikamarkt
- Gruppierung: Bei Patentablauf eines Wirkstoffs bildet der Gemeinsame Bundesausschuss Festbetragsgruppen für wirkstoffgleiche oder pharmakologisch vergleichbare oder auch therapeutisch vergleichbare Arzneimittel; in den beiden letzten Fällen können auch noch patentgeschützte Wirkstoffe in das Festbetragssystem einbezogen werden.
- Festsetzung des Festbetrags: Der GKV-Spitzenverband setzt autonom für die jeweiligen Festbetragsgruppen Festbeträge als Erstattungshöchstgrenze fest. Liegt ein Preis darüber, führt dies für Patienten zu einer Aufzahlung, die nicht im Rahmen der Härtefallregelung berücksichtigt wird. Bei einem solchen Preis hat ein Hersteller kaum noch Absatzchancen.
- Kellertreppeneffekte: Für Arzneimittel, deren Preis um 30 oder mehr Prozent unter dem Festbetrag liegt, gilt eine Zuzahlungsbefreiung für Patienten. Das soll die Nachfrage auf besonders billige Generika lenken und entsprechende Preissenkungen auslösen. Ist dieser Effekt eingetreten, senkt der GKV-Spitzenverband den Festbetrag, so dass Arzneimittel aus der Zuzahlungsbefreiung herausfallen. Das hatte zumindest in der Vergangenheit weitere Preissenkungsrunden zur Folge (Kellertreppeneffekt).
- Rabattverträge: Die Idee ist, einem oder sehr wenigen besonders preisgünstigen Generika quasi Exklusivitätsrechte auf dem deutschen Markt zu verschaffen. Der Weg führt über Ausschreibungen, der günstigste Anbieter erhält den Zuschlag. Veranstaltet werden die Ausschreibungen von Kassenarten oder Gruppen von Krankenkassen. Beim Zuschlag ist ausschließlich der Preis maßgeblich. Die erzielten Einsparungen der Kassen liegen im Milliardenbereich.
- Das Karussell der Preissenkungen ist für Hersteller dann betriebswirtschaftlich akzeptabel, wenn aufgrund von steigendem Mengenabsatz bei der Produktion auch sinkende Grenzkosten realisiert werden können. Dieser betriebswirtschaftlichen Rationale steht volkswirtschaftlich gesehen ein Konzentrations- und Monopolisierungsprozess – in diesem Fall weltweit – gegenüber. Das kann bei unerwartet steigender Nachfrage oder bei Qualitätsproblemen in der Fertigung oder Mangel an Hilfsstoffen zu Lieferengpässen führen.
- Der Generikamarkt: 36,3 Milliarden DDD – das sind 79,1 Prozent an der Gesamtversorgung – entfallen im Jahr 2021 auf Generika. Zehn Jahre zuvor betrug der Versorgunganteil noch 70,5 Prozent. Der Umsatz der Generikahersteller mit den Krankenkassen belief sich 2021 auf zwei Milliarden Euro, das sind 7,2 Prozent des Gesamtumsatzes aller Arzneimittelhersteller mit den Krankenkassen.
- Rechtliches: Das Festbetragssystem ist von allen Gerichtsinstanzen geprüft, höchstrichterlich auch vom Bundesverfassungsgericht (BvL 28/95 vom 17. Dezember 2002).