Tumoragnostik: Ein Schlüssel für alle Entitäten?
Krebstherapie basierend auf Genetik und nicht der Lokalisation des Tumors – so der Ansatz der Tumoragnostik. Doch welche Hürden bestehen noch in der Praxis?
Keine Zukunftsmusik mehr: 3 tumoragnostische Therapien zugelassen1,2
In der zielgerichteten Behandlung von Krebs hat sich bereits viel getan: So kamen v. a. im letzten Jahrzehnt einige zielgerichtete Therapieoptionen auf den Markt, die molekulare Veränderungen in Tumoren einer Krebsart angreifen.1
Die Tumoragnostik geht einen Schritt weiter und bezieht nur den Nachweis von genetischen Alterationen wie aktivierende Mutationen oder Fusionen ein – unabhängig von Krebsart, Lokalisation des Primärtumors oder weiteren histologischen Eigenschaften.1
Bislang sind in der EU drei tumoragnostische Therapien zugelassen:1,2
- Die beiden Inhibitoren der Tropomyosin-Rezeptor-Kinasen TRKA, TRKB und TRKC Larotrectinib und Entrectinib sowie
- der selektive RET-Tyrosinkinasehemmer Selpercatiniba,b.
Allerdings finden die Ansätze bisher wenig Erwähnung in den Leitlinien zu soliden Tumoren. So enthält die S3-Leitlinie zum Mammakarzinom keinen Hinweis auf tumoragnostische Therapien, während die S3-Leitlinie zum Lungenkarzinom auf die beiden TRK-Inhibitoren verweist – allerdings nur in Fällen, wo keine bessere Behandlung zur Verfügung steht.3,4
Genetische Tests bilden Grundlage für Tumoragnostik
Essenziell für den zukünftigen Einsatz von tumoragnostischen Therapien ist die molekulare Testung auf Treiberalterationen wie z. B. RET (REarranged during Transfection).
Veränderungen von RET kommen als onkogener Treiber bei einer Reihe von soliden Tumoren vor:
-
Sporadische medulläre Schilddrüsenkarzinome(MTC): somatische RET-Mutationen bei bis zu 90 %5
-
Hereditäre MTC-Fälle: RET-Mutationsrate bei nahezu 100 %5
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Papilläre Schilddrüsenkarzinome: aktivierende Alterationen bei 10-20 %6
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Nicht-kleinzellige Adenokarzinome der Lunge: RET-Fusionen bei etwa 2 %6
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Brustkrebs: bis zu 1,2 % aller Fälle (66 % Amplifikationen und 7 % Fusionen)7
…aber auch bei anderen soliden Tumoren wie z. B. beim Kolon-, Ovarial- und Pankreaskarzinom.6
RET als potenzielles Target bei Brustkrebs
Während 1,2 % aller Brustkrebs-Fälle nur ein geringer Anteil zu sein scheint, könnten aufgrund der hohen Anzahl an jährlichen Neudiagnosen dennoch viele Brustkrebspatient:innen von einem RET-spezifischen Ansatz profitieren.7
Welchen Effekt könnte die Inhibition der RET-Kinase im Rahmen der Brustkrebstherapie haben?
Einige Studienergebnisse zu Hormonrezeptor-positivem Brustkrebs sprechen dafür, dass RET-Inhibitoren zum einen die Sensitivität gegenüber Hormontherapien wie Tamoxifen oder Aromatasehemmer erhöhen könnten und zum anderen die endokrine Resistenz verringern könnten. Aber auch bei Hormonrezeptor-negativem Brustkrebs konnten RET-Alterationen identifiziert werden, die ein potenzielles Target darstellen.7
Was bedeutet die Neuerung für die Praxis?
Während tumoragnostische Krebstherapien einen spannenden Ansatz darstellen, bestehen noch Einschränkungen für den Einsatz in der Praxis. Gegenwärtig orientiert sich die Therapieentscheidung an der Krebsart und den Empfehlungen der dazugehörigen Leitlinie, v. a. weil es in den jeweiligen Entitäten bereits sehr spezifische und wirksame Therapien gibt.1
Die Therapieentscheidung bleibt somit weiterhin individuell – das bestätigte auch ein Positionspapier der DGHO. So sollte beim potenziellen Einsatz der TRK-Inhibitoren die Wirksamkeit der sonstigen verfügbaren Therapieoptionen, das Alter, Komorbiditäten sowie mögliche Nebenwirkungen berücksichtigt werden.8
a Bedingte Zulassung: Dieses Arzneimittel wurde unter „Besonderen Bedingungen“ zugelassen. Das bedeutet, dass weitere Nachweise für den Nutzen des Arzneimittels erwartet werden. Die Europäische Arzneimittel-Agentur wird neue Informationen zu diesem Arzneimittel mindestens jährlich bewerten und, falls erforderlich, wird die Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels aktualisiert werden.2
b Selpercatinib (Retsevmo®) als Monotherapie wird angewendet zur Behandlung von Erwachsenen mit fortgeschrittenem RET-Fusions-positiven nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom (NSCLC), die zuvor nicht mit einem RET-Inhibitor behandelt wurden sowie fortgeschrittenen RET-fusionspositiven soliden Tumoren, wenn Behandlungsoptionen, die nicht auf RET abzielen, nur begrenzten klinischen Nutzen bieten oder ausgeschöpft sind. Selpercatinib (Retsevmo®) als Monotherapie wird außerdem angewendet zur Behandlung von Erwachsenen und Jugendlichen ab 12 Jahren mit fortgeschrittenem RET-Fusions-positiven Schilddrüsenkarzinom, das refraktär für radioaktives Iod ist (wenn radioaktives Iod angemessen ist) sowie fortgeschrittenem RET-mutierten medullären Schilddrüsenkarzinom (MTC).2
Fachinformation Retsevmo®
- Gewohnte Denkmuster verlassen – Potenzial tumoragnostischer Therapien nutzen. DocCheck, https://www.doccheck.com/de/detail/articles/45253-gewohnte-denkmuster-verlassen-potenzial-tumoragnostischer-therapien-nutzen (abgerufen am 03.06.2024).
- Fachinformation Retsevmo®, aktueller Stand.
- Interdisziplinäre S3-Leitlinie für die Früherkennung, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms. Stand Juni 2021. AWMF-Reg.-Nr. 032-045OL, unter: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/032-045OLl_S3_Mammakarzinom_2021-07.pdf(zuletzt abgerufen am 04.06.2024).
- S3-Leitlinie Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Lungenkarzinoms. Stand März 2024. AWMF-Reg.-Nr. 020-007OL, unter: https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/fileadmin/user_upload/Downloads/Leitlinien/Lungenkarzinom/Version_3/LL_Lungenkarzinom_Langversion_3.0.pdf(abgerufen am 03.06.2024).
- Ciampi R et al. Genetic Landscape of Somatic Mutations in a Large Cohort of Sporadic Medullary Thyroid Carcinomas Studied by Next-Generation Targeted Sequencing. iScience. 2019;20:324-336.
- Kato S et al. RET Aberrations in Diverse Cancers: Next-Generation Sequencing of 4,871 Patients. Clin Cancer Res. 2017;23(8):1988-1997.
- Paratala BS et al. RET rearrangements are actionable alterations in breast cancer. Nat Commun. 2018;9(1):4821.
- NTRK-Inhibitoren als sog. tumoragnostische Arzneimittel: Empfehlungen zu Diagnostik und Therapie. Positionspapier DGHO, Februar 2020, https://www.dgho.de/publikationen/stellungnahmen/gute-aerztliche-praxis/ntrk-inhibitoren/tumor-agnostische-arzneimittel-20200113.pdf(abgerufen am 03.06.2024).
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