Prof. Dr. med. Hermann Einsele, Würzburg, Geschäftsführender Vorsitzender der DGHO, umriss das Problem: Die Onkologie hat zuletzt riesige Fortschritte verzeichnet. Immer mehr Patienten kann gut geholfen werden. Doch den jährlich 500.000 onkologischen Neuerkrankungen steht jetzt eine wachsende Anzahl von Arzneimittelengpässen gegenüber. Das betrifft vor allem Medikamente, die seit vielen Jahren eingesetzt werden und als Generika verfügbar sind. Betroffen sind vor allem Brustkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Lungenkrebs und Tumoren im Magen-Darm-Bereich. Auch supportive Medikamente sind nicht mehr selbstverständlich verfügbar – wie etwa Calciumfolinat, Harnsäuresenker, Antibiotika, Immunglobuli. Die Versorgungssicherheit ist angegriffen.
Prof. Dr. med. Thomas Seufferlein, Ulm, Mitglied im Vorstand der Deutschen Krebsgesellschaft, bezeichnete die Engpässe als nicht akzeptabel, vor allem, wenn es um unverzichtbare Medikamente geht und wenn beispielsweise das Outcome der Patienten gefährdet wird. Am Beispiel des versorgungskritischen Wirkstoffs Calciumfolinat erläuterte Seufferlein erste Lösungsansätze: Im Ausland wurden Überhänge festgestellt, es gab Ausnahmegenehmigungen, diese in Deutschland zu verwenden. Daten zu Produktion, Einkauf und Abgabe zeigen regionale Ungleichverteilung, daher wurden einschränkende Distributionsregeln genehmigt. Kein Grund für Entwarnung jedoch: Es gibt keine vollständige Kompensation der Engpässe.
Auch bei 5-FU-Fluorouracil gab es regionale Engpässe. Kurzfristig wurden über 20.000 Packungen aus Griechenland besorgt und konnten direkt, ohne wie sonst üblich umgepackt zu werden, am Patienten eingesetzt werden.
Für den Lieferengpass von nabPaclitaxel, relevant beim Mammakarzinom, beim Lungen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs, sorgte vor allem eine erhöhte Nachfrage. Alternativen sind entweder nicht zugelassen, deutlich toxischer und auch nicht bei jedem Patienten sinnvoll. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat daher den Import aus anderen europäischen Ländern (Dänemark, Norwegen, Island) gestattet. Die Herstellerfirma hat gebeten, maximal für einen Therapiezyklus zu verordnen. Derzeit noch kein befriedigender Stand.
Die Ursachen greifen ineinander und vertiefen Probleme, die keineswegs nur Deutschland betreffen:
2020 wurde der Beirat für Liefer- und Versorgungsengpässe, Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gegründet. Er beobachtet und bewertet die Versorgungslage, führt eine Lieferengpassdatenbank. Es gibt einen Dialog über die Sicherheit zur europäischen Arzneimittelversorgung mit der EU-Task-Force "Guiding on Marketing authorisation holders on repirtung of shortages".
Das Engpassmanagement sorgt für Information über Engpässe - Hersteller melden an den BfArM. So entsteht eine proaktive Information an Stakeholder und Öffentlichkeit. Als Notfallmaßnahmen im Krisenfall sollen Unternehmen Restbestände mobilisieren, kurzfristig importieren, Zulieferer und Wirkstoffquellen wechseln, Produktionen vorziehen.
Ein präventives Frühwarnsystem soll den Apothekenvertrieb, den Großhandel, die Krankenkassen einbeziehen. Die Oberbehörden verschaffen sich zudem einen Überblick über die Abhängigkeit der Hersteller von wenigen Zulieferern und Standorten. Angestrebt wird eine dezentralere Produktion, vorzugsweise in Europa. Der Wert generischer Arzneimittel für die Versorgung soll bei der Bepreisung berücksichtigt werden.
Reale Beispiele aus der gynäkologischen Onkologie lieferte Prof. Dr. med. Matthias Beckmann, Erlangen, Leitlinienbeauftragter der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und Mitglied der AMNOG-Kommission.
Es gibt keinen Engpass bei innovativen Medikamenten. Das Problem liegt bei den Standardmedikamenten. Wenn Standardmedikamente plötzlich fehlen, führt das zu Frust bei Behandlern, Angst und Verunsicherung der Patienten und zu Vertrauensverlust, so die Beobachtung.
Das Beispiel Tamoxifen wirkt dramatisch: Das hochwirksame, etablierte Medikament ist seit 50 Jahren am Markt. Es soll über fünf Jahre genommen werden. Jetzt ist es auf einmal knapp. Postmenopausal gibt es gute Alternativen. Für prämenopausale Frauen gibt es dagegen keine Alternative. Beim Therapiewechsel kommt es zu erhöhten Nebenwirkungen, zu Therapieabbrüchen, zu Langzeitfolgen wie Herzinfarkt und Osteoporose, zu insgesamt schlechteren Prognosen. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin leidet darunter extrem.
2018 gab es den Nobelpreis für neue Checkpoint Inhibitoren. Sie sichern einen deutlichen Überlebensvorteil beim besonders aggressiven Triple negativen, metastasierten Mammakarzinom. Diese großartige innovative Medikation ist allerdings nur in Kombination mit dem Partner nabPaclitaxel zugelassen. Und dieser Partner ist gerade nicht verfügbar. Die Innovation samt Überlebensvorteil kommt also nicht zur Patientin mit ihrem schnell wachsenden Mammakarzinom. Ärzte können nicht mehr das Beste für ihre Patientinnen machen. Und auch laufende Studien werden durch die Engpässe von Kombinationspartnern behindert oder sogar abgebrochen. Das beeinträchtigt innovative Entwicklungen langfristig.
Prof. Dr. med. Bernhard Wörmann, Berlin, Medizinischer Leiter der DGHO, Mitglied im BfArM, sprach über den Schutz unverzichtbarer Medikamente. Dazu gehören Zytostatika, Antihormonelle Medikamente, Antikörper, Inhibitoren, Immuntherapien und andere. Hauptsächliche Engpassprobleme entstehen in der Herstellung, durch Bedarfssteigerung, sowie Marktrücknahmen.
Gegensteuern soll ein Register mit Meldepflicht. Ein behördliches Risikomanagement soll Importe erleichtern. Bewertung von Alternativen durch Fachgesellschaften
Unternehmen sollen Lieferverpflichtungen übernehmen und zur Vorratshaltung verpflichtet werden. Hersteller, die Produkte einstellen, sollen an ihre soziale Verantwortung erinnert werden. Erwartet wird die frühzeitige Information über Lieferengpässe durch die Industrie. Auch die Solidarität der Einkaufsgemeinschaften soll gefördert werden – Stichwort Kontingentierung. Und nicht zuletzt will man die Pharmaindustrie in Europa stärken.
Prof. Dr. med. Karl Broich, Bonn, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, gab Ausblicke, wie Engpässe künftig verhindert werden sollen. Der Beirat (BfArM) will von der reaktiven in eine präventive Arbeit kommen. Alle relevanten Institutionen sitzen im Gremium – Apotheker, Kliniken, Fachgesellschaften, Industrieverbände, Ärzteverbände, Großhandel, Kostenträger, Patientenvertreter, Bundesoberbehörde, Länderbehörden.
Beim Tamoxifen kam es zu einer Marktverengung. Ein Zulassungsinhaber fiel weg. Es gab einmal acht Anbieter, dann nur noch zwei. Um dem Engpass schnell gegenzusteuern, wurde kontingentiert. Apotheken haben nur noch 30er Packungen abgegeben, Tamoxifen wurde aus Nachbarländern eingeführt, die Produktion eines anderen Zulassungsinhabers wurde vorgezogen, entsprechende Qualitätsanforderungen wurden sehr zügig bearbeitet. Beim Calciumfolinat sieht es ähnlich aus. Lohnhersteller haben verzögert geliefert, während gleichzeitig die Nachfrage stieg. Es kam zu einer Fehlverteilung. Kontingentierung, Transparenz, sowie Einfuhr aus Nachbarländern haben die Probleme gemildert. Bestimmte Bearbeitungsvorgänge wurden vorgezogen und beschleunigt.
Das Eckpunktepapier des Bundesministeriums für Gesundheit vom Dezember 2022 beschäftigt sich insbesondere mit der Verbesserung der Versorgung mit Arzneimitteln für Kinder.
Erste Schritte sind:
Nicht zuletzt sollen Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz (KI) genutzt werden, um längerfristig vor die Welle zu kommen und die kontinuierliche Versorgung mit Medikamenten nachhaltig zu sichern. Das KI-Projekt des BfArM wird Informationen und Daten zusammenführen, um Phänomene besser zu bewerten. KI soll Risiken prospektiv identifizieren, Schwachstellen analysieren, Risikopotenziale bei Handelswegen und Produktionsstätten erkennen sowie Ausfallszenarien simulieren.