Stillstand im Gesundheitswesen: Vorstandsvorsitzender des SpiFa warnt vor gravierenden Folgen

Angesichts des drohenden Stillstands im Gesundheitssystem warnt Dr. Heinrich, Vertreter Tausender Ärzte, eindringlich vor den Konsequenzen. Der Generationswechsel unter Ärzten und Patienten fordert schnelle und gezielte politische Maßnahmen.

Interview mit Dr. Dirk Heinrich

esanum: Als Vertreter von rund 150.000 Fachärztinnen und Fachärzten warnen Sie vor einem gesundheitspolitischen Stillstand. Was genau befürchten Sie?

Dr. Dirk Heinrich: Wir befinden uns in einer Phase, in der dringend Probleme im Gesundheitswesen angegangen werden müssen, besonders im fachärztlichen Bereich. Bei einer Regierungsbildung und der Einarbeitung eines neuen Ministers vergehen Monate, bis Gesetze verabschiedet sind. Das droht zu einem Stillstand zu führen, der bis zu anderthalb Jahre dauern könnte. Diese Zeit können wir uns nicht leisten, da wir mitten in einem Generationenwechsel stehen: Sowohl Patienten als auch Ärzte der geburtenstarken Jahrgänge gehen in Rente, was den Bedarf an medizinischen Dienstleistungen erhöht. Während ältere Ärzte aus dem Beruf ausscheiden, ist es wichtig, diejenigen zu ermutigen, länger zu arbeiten, und junge Mediziner dazu zu bewegen, hier zu praktizieren statt in andere Berufsfelder abzudriften.            

esanum: Sie haben die Ampelregierung kritisiert, keine Baustellen im Gesundheitswesen abzubauen. Welche meinen Sie konkret?               

Dr. Dirk Heinrich: Im niedergelassenen Bereich, besonders bei den Ärzten in der Praxis, ist kaum etwas geschehen. Zwar steht die Entbudgetierung der Hausärzte kurz bevor, aber grundlegende Veränderungen fehlen. Wichtige Themen wie die Patientensteuerung wurden nicht adressiert. Auch bei der Finanzierung des Gesundheitswesens, zum Beispiel bei versicherungsfremden Leistungen, gab es keine nennenswerten Fortschritte. Auf dem Papier gibt es eine Krankenhausreform, die aber ohne eine effektive Ambulantisierung und Notfallreform nicht weit trägt – beides sind essenzielle Baustellen, wo nichts passiert ist.

esanum: Worin besteht das Problem in der Notfallversorgung?

Dr. Dirk Heinrich: Patientensteuerung ist ein zentrales Thema. Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Zahl der Ärzte sinkt und gleichzeitig die Patientenzahlen steigen. Das budgetierte System führt zu Wartezeiten und langen Wartelisten, die aufzeigen, dass es nicht funktioniert. Mit den geburtenstarken Jahrgängen, die verstärkt medizinische Leistungen benötigen, wird das Problem noch verschärft. Der Bedarf steigt in nahezu allen medizinischen Bereichen. Wir müssen medizinische Leistungen dort bereitstellen, wo sie wirklich notwendig sind, und uns von Bagatellerkrankungen entlasten, die Ressourcen binden.

esanum: Welche konkreten Vorschläge haben Sie für diese Problematik?

Dr. Dirk Heinrich: Eine effektive Patientensteuerung ist entscheidend. Das beginnt bereits in der Notaufnahme. Wahrscheinlich kann das nur über finanzielle Anreize, ein Tarifsystem oder ein Primärarztsystem geschehen, bei dem jeder Patient einen koordinierenden Arzt hat – eine Rolle, die nicht nur Hausärzte spielen können, sondern auch Fachärzte. So wird gemeinsam mit dem Patienten entschieden, welche Überweisungen wirklich nötig sind. Dies könnte unnötige Kosten und die unstete Navigation durch das Gesundheitssystem vermeiden.

esanum: Können Sie das mit den unterschiedlichen Tarifen näher erläutern?

Dr. Dirk Heinrich: Man könnte Tarife so gestalten, dass es einen Normaltarif gibt, bei dem Patienten sich der Steuerung durch einen koordinierenden Arzt unterziehen. Sollte jemand weiterhin die bisherige Arztwahlfreiheit wünschen, würde ein höherer Beitrag zu zahlen sein. Dies betrifft aber nur die gesetzliche Krankenversicherung.

esanum: Welche Verbesserungen erwarten Sie dadurch im Gesundheitswesen?

Dr. Dirk Heinrich: Wenn Patienten einen koordinierenden Arzt haben und diese Steuerung akzeptieren, könnte das enorm helfen. Wir würden die Überinanspruchnahme bei Fachärzten, insbesondere wegen Bagatellerkrankungen, reduzieren und unnötige Mehrfachuntersuchungen vermeiden. Dies würde Ressourcen freisetzen und das System effizienter machen.

esanum: Wie steht es um die Verfügbarkeit von Hausärzten für alle Patienten?

Dr. Dirk Heinrich: Es ist längst nicht garantiert, dass jeder einen Hausarzt findet, da es zu wenige gibt. Deswegen reicht ein Primärarztsystem, das lediglich auf Hausärzte setzt, nicht aus. Stattdessen müssen auch Fachärzte in diese Rolle eingebunden werden, besonders bei jüngeren Patienten mit bestimmten Fachkrankheiten, um die Hausärzte zu entlasten, die sich auf multimorbide Patienten konzentrieren sollten.

esanum: Gibt es noch andere Stellschrauben im Gesundheitssystem?

Dr. Dirk Heinrich: Natürlich gibt es viele Faktoren. Neben dem Mangel an Ärzten und dem medizinischen Fortschritt ist vor allem die soeben angesprochene Überinanspruchnahme durch Patienten ein Problem, das wir seit der Pandemie beobachten. Viele Patienten suchen aus geringfügigen Gründen ärztliche Hilfe, was die schon spärlich vorhandenen Ressourcen weiter belastet.

esanum: Was sind Ihre Vorschläge zur Finanzierung des Gesundheitswesens?

Dr. Dirk Heinrich: Es braucht eine ehrliche Bereinigung, damit versicherungsfremde Leistungen nicht weiter das Gesundheitswesen belasten. Diese nötigen Milliardenbeträge sollten aus dem Gesundheitswesen herausgerechnet und beim Finanzministerium verortet werden. Auch die Beiträge für Bürgergeldempfänger müssen fair angepasst werden, um die finanzielle Stabilität der Krankenversicherungen zu sichern. Hier liegt viel Unterstützung durch die gesetzlichen Krankenkassen vor. Aber es erfordert den nötigen politischen Mut, diese Reformen anzugehen.

esanum: Was halten Sie von einem stärkeren Selbstverwaltungssystem für Ärzte?

Dr. Dirk Heinrich: Die Selbstverwaltung war maßgeblich für den Erfolg unseres Gesundheitswesens verantwortlich. Sie hat ermöglicht, dass wir im ambulanten Bereich einen so einzigartig leichten Zugang zu medizinischen Dienstleistungen haben. Eine Reform in Richtung mehr Freiheit für die Selbstverwaltung könnte ein entscheidender Schritt zur Verbesserung des Systems sein, indem die Praxen von übermäßiger Regulierung entlastet werden.

esanum: Abschließend, was sollte in der politischen Diskussion dringend angegangen werden?

Dr. Dirk Heinrich: Die Budgetierung muss überdacht werden. Die Forderung nach mehr Arztterminen bei begrenztem Budget ist widersinnig. Wenn ein Arzt nur 75 Prozent seiner Leistungen bezahlt bekommt, führt das zu Terminengpässen. Die Politik muss diesen ökonomischen Widerspruch erkennen und lösen.