Die Tagesspiegel Expertenrunde zu seltenen Erkrankungen bot Vertreterinnen und Vertretern aus Medizin, Politik, Forschung und Patientenschaft ein Forum, um über den aktuellen Status seltener Erkrankungen und deren Behandlung in Deutschland zu diskutieren. Uwe Korst, Koordinator Prävention und seltene Nierenerkrankungen beim Bundesverband Niere e.V., ist selbst von einer seltenen Erkrankung betroffen: ADPKD (Zystennieren). Für ihn ist besonders der Austausch unerlässlich. Damit meint er neben Netzwerken für Betroffene und den interdisziplinären Austausch verschiedener Fach- und Allgemeinmediziner sowie Therapeuten auch die Arzt-Patient-Beziehung. Denn die Überbringung einer solchen Diagnose – bei Betroffenen dauert es oft mehrere Jahre, bis diese gesichert ist – birgt auch für erfahrene Ärzte Herausforderungen, bestätigt Dr. Svetlana Lovric, Fachärztin für Innere Medizin und Nephrologie an der MHH Hannover. "Die sprechende Medizin wird in Deutschland leider noch nicht entsprechend vergütet, gerade aber bei seltenen Erkrankungen wäre dies essentiell", merkt sie an.
Neben dem gesundheitlichen Aspekt spielt auch die sozioökonomische Krankheitslast eine Rolle für Patienten mit einer seltenen Erkrankung. Dr. Malina Müller, Head of Health Economics beim WifOR Institute, stellte ihre Studie zur sozioökonomischen Krankheitslast der PNH (Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie) in Deutschland vor. Diese hatte zum Ziel, den Verlust bezahlter sowie unbezahlter Arbeit zu monetarisieren und festzuhalten. Daraus ergab sich, dass Betroffene mit PNH und generell seltenen Erkrankungen erhebliche finanzielle Einbußen aufgrund ihrer Krankheit erleben. Demnach haben Krankheiten und deren unzureichende Behandlungen Einfluss auf Individuen und die Gesellschaft. Dr. Müller folgert: "Ausgaben im Gesundheitssektor sollten als nachhaltige Investition betrachtet werden."
Erich Irlstorfer, MdB und Mitglied im Gesundheitsausschuss, zieht die Politik in die Verantwortung, wenn es darum geht, seltene Erkrankungen zu diagnostizieren und zu therapieren. Dieser Aufgabe hat er sich als Politiker selbst verschrieben und plant noch dieses Jahr ein Weißbuch für seltene Erkrankungen zu veröffentlichen. Dessen Finanzierung ist bereits gesichert und in wenigen Wochen sollen diverse Exemplare an alle deutschen Gesundheitsminister und im Nachgang auch an die europäischen Minister ausgeliefert werden. Diese Schrift soll als Diskussionsgrundlage dienen, um seltene Erkrankungen mehr in den politischen und öffentlichen Fokus zu rücken. Außerdem setzt er sich für gesetzliche Rahmenbedingungen ein, die innovationsfreundliche Forschung im Bereich Orphan Diseases fördern.
Mittlerweile wurde das Neugeborenen-Screening angepasst und erweitert. Somit können Babys auf deutlich mehr Krankheiten untersucht werden. Eine daraus folgende frühere Diagnose ermöglicht den Kindern, rechtzeitig die benötigte medizinische Versorgung zu erhalten.
Außerdem führt der Ausbau von Patientenregistern zu mehr auswertbaren Daten, die sich wiederum positiv auf eine erleichterte Diagnostik und die Entwicklung von Orphan Drugs auswirken.
Ebenso positiv hervorzuheben ist die stetig wachsende Anzahl an Expertenzentren für die Behandlung von seltenen Erkrankungen. Hier finden sich multidisziplinäre Teams zusammen, die sich optimal um Diagnose und Versorgung kümmern können. Der steigende Einsatz von KI-Tools kann kann auch bei Orphan Diseases von Vorteil sein. So könnten Biopsien beispielsweise schneller analysiert und klassifiziert werden, jedoch ist hier eine hohe Datenmenge zum Training dieser KIs unabdingbar – Stichwort: Patientenregister.
Doch bei all den therapeutischen Fortschritten darf nicht vergessen werden, wie es Betroffenen während einer Behandlung einer seltenen Erkrankung geht. Uwe Korst betont:
"In der Medizin ist ein Paradigmenwechsel notwendig. Wir dürfen nicht nur die gewonnenen Lebensjahre durch eine Therapie einberechnen, sondern vor allem die Erhaltung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität zählt."