Die Diagnose der Gesundheitsweisen für die Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems fällt harsch aus: "Die bisherige Selbstwahrnehmung, dass in Deutschland alles gut organisiert ist, war und ist trügerisch. Unser Gesundheitssystem ist hoch komplex, ein behäbiges Schönwettersystem, das unter unzulänglicher Digitalisierung und einem formaljuristisch leerlaufenden Datenschutzverständnis leidet", fasst der scheidende Vorsitzende des Sachverständigenrats Gesundheit den Zustand von Medizin und Pflege vor dem Hintergrund der jüngsten Krisenerfahrungen zusammen.
Angesichts wachsender Wahrscheinlichkeit für neue Krisen – Pandemien, Katastrophen und Gesundheitsrisiken durch den Klimawandel, Kriege und dadurch unterbrochene Lieferketten – fordern die Gesundheitsweisen nicht nur Reformen für das Gesundheitssystem als solches, sondern auch eine neue politische Kultur und Organisation von Entscheidungen: einen konsequenten Health-In-All-Policies-Ansatz, der die Dimension Gesundheit in allen relevanten Politikbereichen mitdenkt, mit Blick auf den Klimawandel die Verwirklichung des Konzepts der Planetaren Gesundheit sowie eine systematische Vorbereitung auf Krisen durch Digitalisierung, aktuelle Krisenpläne und deren permanente Überprüfung in Übungen. Denn, so kritisiert Ferdinand Gerlach: "Existierende Pandemiepläne liegen in Schubladen, sind veraltet und nie geübt worden."
Der Klimawandel beinhaltet "große Gefahren für die menschliche Gesundheit" und führt zu bereits beobachtbarer Übersterblichkeit. Das erfordere die Realisierung des Konzepts der "Planetaren Gesundheit". Im Unterschied zu Deutschland haben andere europäische Länder bereits ein regelmäßiges Monitoring der Morbidität und Mortalität im Zusammenhang mit Wetterdaten, insbesondere Hitzewellen, etabliert. Diese seien Grundlagen für Hitzeaktionspläne, die in Deutschland nicht existieren. Vor allem besonders vulnerable Gruppen seien nicht gezielt erreichbar. Notwendig dafür sei eine Bundesrahmengesetzgebung, mit der Hitzeschutzmaßnahmen verbindlich gemacht werden. Mittelfristig müsse der Hitzeschutz auch in die Städte- und Gebäudeplanung einbezogen werden.
Auch mit Blick auf neue Infektionskrankheiten – insbesondere die durch den Klimawandel ausgelöste Nordwanderung von Tropenkrankheiten induzierten Risiken – müsse eine Monitoring- und Surveillance-System aufgebaut werden. Die Forschung für diese Herausforderung müsse erheblich beschleunigt und gestärkt werden.
Als Folge des Klimawandels halten Experten das Auftreten neuer Pandemien für wahrscheinlicher. Der Sachverständigenrat plädiert dazu für eine umfassende Resilienzstrategie: systematische Vorbereitung, rechtzeitige Erkennung eines Schocks, Wirkung und Bewältigung es Schocs sowie systematisches Lernen. "Eine krisentaugliche Fehlerkultur, die flexible Reallokation von Ressourcen und die kurzfristige Ausweitung von Kapazitäten müssen vorbereitet und geübt werden", schreibt der Rat politischen Entscheidungsträgern ins Pflichtenheft.
Ein wesentliches Element der staatlichen Rahmenbedingungen sei die eindeutige Zuweisung von Kompetenzen und Aufgaben an die verschiedenen Stakeholder. Dazu gehöre, dass in allen Ressorts (Ministerien) Gesundheitsaspekte mitberücksichtigt werden, etwa durch verpflichtende gesundheitspolitische Stellungnahmen. Katastrophenschutzübungen müssten lokale und überregionale Stakeholder involvieren, regelmäßig durchgeführt und gewonnene Erkenntnisse implementiert werden. Digitale Unterstützungssysteme seien dabei "unumgänglich".
Zur Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes müsse die Public Health-Forschung in Deutschland ausgebaut und neu ausgerichtet werden. Die ÖGD-Struktur solle dezentral bleiben, aber vernetzt werden. Diese Vernetzung könne durch das geplante Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit geleistet werden. Daneben sei eine "quantitativ und qualitativ verbesserte Ressourcenausstattung" notwendig. Zur schnellen Skalierbarkeit in Krisenzeiten müsse ein Freiwilligen-Pool aufgebaut werden, der im Bedarfsfall schnell aktiviert werden kann.
Die gegenwärtige Akutversorgung – ambulant wie stationär – bewertet der Rat als "redundant, wenig vernetzt und nicht mehr bedarfsgerecht". Notwendig sei der Abbau von Über- und Fehlversorgung, insbesondere um personelle Ressourcen zu schonen und freizusetzen. In der möglichen Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland sieht der Rat nur einen geringen Beitrag zur Lösung des Fachkräftemangels. Notwendig sei daher die Bildung integrierter regionaler Gesundheitszentren zur Entlastung von Krankenhäusern und deren Mitarbeitern in Medizin und Pflege. Der Status der Pflege müsse deutlich aufgewertet werden, die Akademisierung ausgebaut und eine Selbstverwaltung der Pflege mit Mitentscheidungsrechten im Bundesausschuss aufgebaut werden.
Neben einem besseren Monitoring möglicher Lieferengpässe fordert der Rat grundsätzlich eine Strategie zur Stärkung von Lieferketten: Multiple Sourcing, Nearshoring und globale Diversifikation. Rabattverträge für Arzneimittel sollten mit mehreren Herstellern abgeschlossen werden, Bevorratungsverpflichtungen verbindlich sein. Zudem müsse für lebensnotwendige Produkte regionale Produktionskapazitäten geschaffen werden.
Zur Stärkung der Innovationskraft sei neben den Maßnahmen zur Verbesserung des Forschungsumfeldes in Deutschland weiterhin ein verlässlicher Patentschutz notwendig. Zugleich müsse aber auch anerkannt werden, dass die Bekämpfung globaler Krisen nur gelinge, wenn internationale Solidarität praktiziert werden – also auch Staaten, die nicht in Lage sind, Monopolpreise zu bezahlen, in die Versorgung mit Innovationen eingeschlossen werden.