Die Kinder sind durch die Pandemie doppelt geschädigt worden. Sie tragen die Folgen des Lockdowns, der Schulschließungen, des Masketragens. Da sehe ich diverse Schädigungen, die deutlich zugenommen haben. Sie leiden vermehrt an Depressionen, an Verhaltensauffälligkeiten, sie haben mehr Übergewicht, der Medienkonsum ist angestiegen, das hat Folgen für die schulischen Leistungen. Derzeit sehe ich in der Praxis deutlich mehr psychische und psychiatrische Erkrankungen, sowie einen hohen Anstieg der Infektionskrankheiten. Und natürlich sieht man durch die hohe Zahl auch deutlich mehr Komplikationen und schwere Verläufe. Das gehört zusammen.
Die gesundheitlichen Schädigungen der Kinder in Folge der Pandemie-Maßnahmen sind zum Teil nicht wieder gutzumachen. Und die verlorenen Jahre der Jugendlichen werden noch schlimme Folgen zeigen. Das betrifft Pubertät, Beziehungen, Persönlichkeitsentwicklung - da ist viel verloren gegangen. Das ist nicht locker wegzustecken. Ich habe Zweifel, ob man das überhaupt wieder aufholen kann. Zwei Jahre sind für Kinder und Jugendliche sehr relevante Zeiträume. Das ist traurig und sehr schlimm. So viele Psychotherapeuten und Kinderärzte haben wir gar nicht, die es für eine Betreuung und Aufarbeitung bräuchte. Die sind völlig überlastet und können die notwendige Hilfe gar nicht leisten. Das wird uns noch auf die Füße fallen.
Ich sage ganz klar: Im Nachhinein ist man immer schlauer. Und es gab keine Erfahrungen, auf die man zurückgreifen konnte.
Dennoch wird jetzt deutlich: Man hätte die Kinder bei den verordneten Maßnahmen aussparen müssen. Aber die Angst war leider verbreitet, dass Corona sich genauso verhält, wie etwa Influenza. Und da sind die Kinder nun einmal die Treiber der Ansteckungsquellen. Wir Kinderärzte wussten es aus eigener Anschauung und auch aus Studien sehr schnell besser. Es wurde festgestellt, dass Kinder genauso schnell Corona-Viren im Hals aufweisen können wie Erwachsene, sie allerdings nicht so viel ausscheiden. Und dass das kindliche Immunsystem sehr schnell reagiert und die Viren sofort abwehrt. Ich hatte nach zwei Pandemie-Monaten bereits Kontakt mit dem RKI und dem öffentlichen Gesundheitswesen und habe meinen Eindruck geschildert. Mir wurde entgegnet, dass meine Eindrücke eben keine Studie seien. Daher bezog man sich bei den Entscheidungen auf Ergebnisse aus dem Labor und nicht aus der Praxis. Und dazu wurden die Erfahrungen mit anderen Viruserkrankungen extrapoliert. Studien von Modellierern sagten voraus, wie die Ansteckungen verlaufen könnten. Bei Grippewellen stimmt das so auch. Immer zwei Monate vor den Erwachsenen bekommen es die Kinder. Und die Angst war groß, dass das auch bei Corona so passiert. Aber es war eben doch recht zügig klar, dass das anders läuft. Und darauf wurde nicht adäquat reagiert. Und so kam man eben zu den falschen Entscheidungen.
Kinderärzte kennen das: Bei Infekten steckt sich ein Kind beim anderen an und zwar sehr schnell und flächendeckend. Bei Corona haben wir das nie gesehen, von Anfang an nicht. Nie haben wir gesehen, dass ganze Kindergärten an Corona erkrankt sind – im Gegensatz zu Streptokokkeninfektionen oder Influenza jetzt. Das war ein ganz anderes Geschehen. Jeder von uns konnte das sehen. Man hätte also im Pandemie-Geschehen ganz anders mit den Kindern umgehen müssen. Völlig absurd war es, Sportvereine zu schließen. Draußen Fußball zu spielen, das ist das Beste, was Kinder machen können!
Auch die Medien spielten dabei eine Rolle. Jeder schwere Fall von PIMS wurde groß herausgestellt - dabei waren das Raritäten. Zum Vergleich: Ich habe gerade ein Kind, das aufgrund von Streptokokken eine Nierenbeteiligung entwickelte und daraufhin eine Bluthochdruckkrise bekam – mit Veränderungen im MRT vom Kopf. Das Kind war komatös und lag zwei Wochen auf der Intensivstation. Aber außer den Eltern interessiert das kaum jemanden. Wäre so etwas im Zusammenhang mit Corona geschehen, wären die Blätter voll gewesen von so einem Fall.
Ich bin sauer und enttäuscht, dass ich und meine Kollegen nicht gehört wurden. Unsere Expertise war nicht von Interesse. Der Satz: Kinder sind Treiber der Pandemie, der war so falsch! Nach drei Monaten Pandemie habe ich dazu einen Vortrag gehalten. Dafür habe ich natürlich Literatur gesichtet. Die erste Arbeit zu Corona fand ich im New England Journal of Medicine. In den etwa 30 Seiten fanden sich 5 Zeilen über Kinder! Es wurden damals in Wuhan 60.000 Personen untersucht, davon etwa 150 Kinder. Das war so, weil Kinder in dem Zusammenhang einfach keine Bedeutung hatten. Ich war zunächst selbst überrascht. Aber das wollte keiner hören, auch nicht, als sich die Eindrücke verfestigten. Kinder waren nie das Problem der Pandemie. Wenn ich in Influenza-Zeiten Abstriche mache, sind die zu 80 Prozent positiv. Bei Corona fanden wir immer nur sehr, sehr vereinzelte positive Tests.
Nun sind unsere Kinder zum zweiten Mal geschädigt, denn jetzt schlagen die Infekte zu Buche. Die Kinder waren ja zwei Jahre lang gesund, hatten keine Infekte – es fehlte das normale Training des Immunsystems. Jetzt hat die Infektwelle deutlich zugenommen. Die Zahl der Atemwegsinfekte liegt deutlich höher als vor der Pandemie. Im Herbst kam die RSV-Welle, dann über den Jahreswechsel Influenza und jetzt haben wir es mit Streptokokken, mit Scharlach, mit Hautinfektionen zu tun.
Zeit, zurückzuschauen, ist also kaum da. Aber es bleibt die Tatsache: Das Votum der Kinderärzte wurde lange nicht gehört. Es wurde nicht bedacht, welche Effekte die Lockdowns, die Schulschließungen für die Kinder haben würden. Man wusste es nicht. Und man wollte es nicht wissen. Es fehlten die Erfahrungen dazu. Ich will jetzt nach vorn gucken. Wir müssen gewappnet sein, falls so etwas wieder passiert. Das war ja sicher nicht die letzte Infektionswelle, die auf uns niederprasselt. Wir brauchen ein klares Prozedere in der Schublade für das nächste Mal. Was bringt etwas und was bringt nichts? Und was schadet mehr, als es nützt? Und was hat das Ganze dann tatsächlich mit den Kindern zu tun?