Wohl keine Rechtsverordnung hat sich, bis auf wenige Korrekturen, als derart robust gegen Veränderungen erwiesen wie die Gebührenordnung für Ärzte. Das Verzeichnis der Leistungen und Bewertungen, die Ärzte für Privatversicherte erbringen und abrechnen dürfen, ist inzwischen mehr als 40 Jahre alt. Es spiegelt den Stand der medizinischen Wissenschaft und Praxis der 1970er Jahre wider. Und ebenso die damals geltenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Kostenrelationen.
Zwar ist es bislang gelungen, den medizinischen Fortschritt durch Analogbewertungen leidlich abzubilden – aber diese Behelfsbrücke wird immer weniger tragfähig. Damit steigt das Risiko, sowohl für Ärzte als auch Privatpatienten, in Rechtsauseinandersetzungen darüber zu geraten, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen Versicherungen neue Leistungen erstatten müssen.
Für Privatpatienten ist die völlig veraltete GOÄ nicht nur ein juristisches, sondern auch ein medizinisches Risiko geworden. Etliche technische Leistungen gelten heute als Folge von Rationalisierungseffekten, beispielsweise in der Labormedizin, als überbewertet – persönliche und insbesondere zeitlich aufwendige Beratungsleistungen sind dagegen krass unterbewertet.
Dazu ein konkretes Beispiel: Einem Patienten müssen, nach einer Reihe von Untersuchungen, die nun feststehende Diagnose Krebs, die zur Verfügung stehenden Behandlungsalternativen, die Prognose des Krankheitsverlaufs und die Konsequenzen für das weitere Leben mitgeteilt werden, unter Umständen mit Einbeziehung eines Angehörigen. Für diese hochkomplexe Beratung in einer für den Patienten psychisch belasteten Situation, steht die GOÄ-Ziffer 34 zur Verfügung: 40,22 Euro beim Regelsatz, 61,20 Euro beim 3,5fachen Satz (mit eingehender Begründung).
Dass dies den Zeit- und Kostenaufwand der Beratung nicht widerspiegelt, liegt auf der Hand. Gleichwohl werden die allermeisten Ärzte, schon aus ihrer intrinsischen Motivation, in einer solchen Konstellation den Patienten einfühlsam und sorgfältig beraten.
Verantwortungsbewusstsein und Patientenorientierung werden so allerdings zu einem wirtschaftlichen Risiko für den Arzt, das zu kompensieren mehr oder weniger geschickt mit der Erbringung rentierlicher technischer Leistungen versucht werden kann. Diese ökonomische Akrobatik aufgrund eines völlig verzerrten Preisgefüges birgt auch Risiken für Patienten, insbesondere durch Überdiagnostik und Übertherapie. Keiner weiß dies besser als der Bundesgesundheitsminister höchst selbst. In anderen Zusammenhängen spricht er deshalb von der „Ent-Ökonomisierung“ der Medizin. Genau genommen ist das zwar Unsinn, denn präzise müsste von einer Beseitigung von Fehlanreizen durch Korrektur der Preisrelationen gesprochen werden. Aber gerade diese Korrektur verweigert Lauterbach Ärzten und Privatpatienten (nicht zuletzt auch einer Mehrheit der beihilfeberechtigten Beamten).
Ursächlich für die beharrliche Reformverweigerung Lauterbachs ist, dass sowohl SPD als Grüne in ihrer gesundheitspolitischen Grundsatzprogrammatik an der Bürgerversicherung für alle als Fernziel festhalten. Die PKV als Vollversicherung abzuschaffen, wäre zwar grundsätzlich möglich, wäre aber ein jahrzehntelanger, von Ärgernissen begleiteter Prozess. Dazu gibt es pragmatischere Alternativen.
Dazu muss man sich die Tatsache vergegenwärtigen, dass sich die Leistungsgewährung in der Privatversicherung nur noch in einem Sektor signifikant von den Leistungen der GKV unterscheidet: in der ambulanten Medizin durch die Existenz zweier unterschiedlicher Gebührenordnungssysteme. In der stationären Versorgung gelten derzeit noch DRGs, künftig eine Kombination aus Vorhaltepauschalen und mengenabhängigen Entgelten für GKV und PKV gleichermaßen. In der Arzneimittelversorgung hat sich die PKV gegen Zahlung einer Servicegebühr an die Bewertungs- und Erstattungsmechanismen der GKV angehängt.
In dieser Situation gäbe es zwei Möglichkeiten. Vor dem Hintergrund ihrer gesundheitspolitischen Programmatik wäre es ideal für SPD und Grüne, die GOÄ als eigene Gebührenordnung abzuschaffen und im Wesentlichen den Einheitlichen Bewertungsmaßstab in eine Rechtsverordnung zu überführen. Womöglich mit einem Verhandlungsmandat für den GKV-Spitzenverband. Nicht ausgeschlossen, dass dies den Beifall durch durchweg opportunistisch denkender Privatversicherungsunternehmen fände. Aus ärztlicher Sicht wäre das wohl die bitterste und auch in alle Zukunft unumkehrbare Lösung. Der Koalitionsvertrag würde dies eigentlich ausschließen, weil damit die vereinbarte Unantastbarkeit des Verhältnisses zwischen GKV und PKV tangiert wäre – ob freilich die FDP das ihr zustehende Veto einlegen würde, ist bei den unsicheren liberalen Kantonisten keineswegs gesichert.
Die zweite Option ist die wahrscheinlichere: die Perpetuierung eines schon seit langem unhaltbaren Zustandes durch Nichtstun. Diese Taktik läuft darauf hinaus, zu sehen, wer den längeren Atem hat. Für Ärzte hat dies einen gewissen Vorteil, denn Legislaturperioden dauern vier Jahre, danach werden die Karten neu gemischt. Allerdings ist ungewiss, ob und wann es eine solche für eine wirkliche GOÄ-Reform günstige Konstellation wie zwischen 2009 und 2021 noch einmal geben wird.
Ärgerlich für die betroffenen Ärzte ist, dass die ärztliche Selbstverwaltung den gegenwärtigen Zustand im Wesentlichen durch mangelhafte Bewegungsfähigkeit über weite Strecken des Reformprozesses selbst zu verantworten hat. Das lange Zeit von den Ministern Bahr, Rösler, Gröhe und Spahn offen gehaltene Reformfenster mit der Vorgabe eines Konsenses zwischen Bundesärztekammer, PKV und Beihilfe wurde nicht genutzt. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.